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Die schwarze Kathedrale

Die schwarze Kathedrale

Titel: Die schwarze Kathedrale Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles Palliser
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Tafel mit eigenen Augen gesehen habe.«
    Aus dem Zuschauerraum waren Ausrufe der Überraschung zu hören.
    »Haben Sie die Nachricht gelesen, Dr. Courtine?«
    »Leider nicht. Ich sah nur, wie Mr. Stonex geistesabwesend einige Zeilen wegwischte. Der Grund, warum ich das nicht schon vorher erwähnt habe, ist der, daß ich diesen Zwischenfall völlig vergessen hatte und er mir erst wieder einfiel, als der Angeklagte vor einer halben Stunde davon sprach.«
    »Möchten Sie damit sagen, daß Perkins Ihrer Meinung nach die Wahrheit sagt?«
    »Davon bin ich überzeugt. Ich glaube, daß Mr. Stonex das Päckchen selbst verpackt und es ihm mittels der mit Kreide geschriebenen Nachricht zugespielt hat.«
    »Aha!« rief der Coroner aus. »Langsam verstehe ich, worauf Sie hinauswollen. Das hat er getan, damit der Bruder – der geheimnisvolle Mann, von dem in der Nachricht die Rede war – es bei Perkins abholen konnte!«
    »Nein, Mr. Attard. Warum hätte er das tun sollen? Wenn er erwartete, daß sein Bruder am späten Nachmittag kommen würde, warum hätte er ihm das Päckchen dann nicht einfach selbst geben sollen?«
    »Ich kann mir seine Handlungsweise nicht erklären. Aber ich nehme an, daß Sie der Meinung sind, daß Mr. Stonex von seinem geheimnisvollen Bruder ermordet wurde.«
    »Nein, dieser Meinung bin ich nicht, Mr. Attard. Ich habe eine noch seltsamere Erklärung.«
    Zu meiner Befriedigung hörte ich die Zuschauer verblüfft nach Luft schnappen.
    »Sie erstaunen mich, Dr. Courtine. Ich dachte, Sie hätten eine Theorie, die alles erklärt. Wenn der alte Herr von einem legitimen Bruder ermordet wurde, dann war das Motiv ja wohl ganz offensichtlich, sein Vermögen zu erben.«
    »Als Historiker habe ich gelernt, dem Offensichtlichen zu mißtrauen, Mr. Attard. An diese Erklärung habe ich selbstverständlich auch gedacht, aber dadurch werden die wesentlichsten Rätsel nicht gelöst: die Tatsache, daß Mr. Stonex Perkins ein Päckchen mit blutbefleckten Banknoten mitgab, daß dem bereits toten Opfer das Gesicht sinnlos zerschmettert wurde, daß der alte Herr schon früher am Nachmittag nach etwas gesucht hatte, daß ihm die Zeit so auffällig wichtig war, daß er den Termin der Einladung zum Tee so kurzfristig verlegte. Die geheimnisvollste aller dieser Fragen ist die, warum dem Toten das Gesicht eingeschlagen wurde, und ich glaube, daß ich dafür eine Erklärung habe, durch die sich auch alle anderen Rätsel ganz von selbst lösen.« Ich hielt inne, bis vollkommene Stille im Saal herrschte – ein rhetorischer Kunstgriff, in dem ich mich während meiner Jahre als Dozent geübt hatte. »Dafür kann es nur ein Motiv geben: Die Identität des Toten sollte verschleiert werden.«
    Ich beobachtete, wie die Geschworenen und die Zuschauer einander erstaunt ansahen.
    »Aber der Tote wurde als Mr. Stonex identifiziert«, wandte der Coroner ein.
    »Der Tote trägt jedenfalls seine Kleidung und ist ein Mann etwa seines Alters, seiner Größe und seines Aussehens. Wenn das Gesicht jedoch bis zur Unkenntlichkeit entstellt wurde, um die Identität des Toten zu verschleiern, dann folgt daraus, daß der Ermordete nicht Mr. Stonex sein kann.«
    Mr. Attard starrte mich verblüfft an. Das Gemurmel der Zuhörer verstärkte sich zu einem lauten Stimmengewirr, so daß er mit seinem Hammer auf den Tisch klopfen mußte. Ich bemerkte, daß Slattery Austin am Arm packte und ihm etwas ins Ohr flüsterte.
    »Aber wer, um Himmels willen, soll es denn sonst sein?«
    »Wer, wenn nicht jemand von etwa dem gleichen Alter und einer ähnlichen äußeren Erscheinung: sein Bruder.«
    Viele der Zuschauer schnappten nach Luft. »Bitte fahren Sie fort, Dr. Courtine«, sagte der Coroner kopfschüttelnd. »Ich muß zugeben, daß ich nun überhaupt nicht mehr weiß, worauf Sie hinauswollen.«
    »Der Bruder traf ein, nachdem Mr. Fickling und ich gegangen waren. Vermutlich kam er durch die Hintertür ins Haus, während der unglückliche Perkins an die Vordertür klopfte. Ich nehme an, daß Mr. Stonex ihn erwürgte.«
    Einen Augenblick lang herrschte verblüfftes Schweigen, dann erhob sich ein Stimmengewirr. Der Coroner schlug mit dem Hammer auf den Tisch, und nach ein paar Sekunden konnte ich fortfahren. »Mr. Stonex zog dem Toten seine eigenen Kleider an und zerschmetterte ihm das Gesicht bis zur Unkenntlichkeit.«
    »Aber, Dr. Courtine, ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, welches Motiv er dafür gehabt haben soll.«
    »Damit komme ich wieder auf das

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