Die schwarze Kathedrale
lächelte wieder. »Einen solchen könnte es durchaus geben, aber er hätte keinen Anspruch auf das Vermögen. Was ich jedoch betonen wollte, ist folgendes: Nachdem das Testament, das ich selbst für Mr. Stonex abgefaßt habe, nicht gefunden wurde, ist es von größter Bedeutung festzustellen, wo es verblieben sein könnte.«
»Aus welchem Grund, Mr. Thorrold?«
»Es ist eigentlich noch zu früh, um davon zu sprechen, aber wenn der Verstorbene es unmittelbar vor seinem Tod in seinem Besitz hatte, es jedoch nicht mehr vorhanden war, nachdem man ihn ermordet und ausgeraubt aufgefunden hatte, besteht berechtigter Grund zu der Annahme, daß es von seinem Mörder vernichtet wurde.«
»Und welche Konsequenzen hätte das?«
»Sehr bedeutsame. Nach englischem Recht ist ein Testament buchstäblich der letzte Wille des Erblassers. Es muß nicht einmal in schriftlicher Form vorliegen, solange es bestimmte Voraussetzungen erfüllt. Ausschlaggebend ist, festzustellen, welche Absichten der Erblasser zuletzt hatte. Und wenn bewiesen werden kann, daß er sein Testament nicht widerrufen wollte und daß es gestohlen und widerrechtlich vernichtet wurde, dann kann es dennoch vollstreckt werden.«
»Vollstreckt? Wie soll das möglich sein?«
»Ich glaube, daß ich in der Lage bin, die Bestimmungen des Testaments genau wiederzugeben, und zwar sowohl aus dem Gedächtnis als auch anhand von Notizen, die ich mir damals gemacht habe.«
»Ich verstehe. Was für eine Frage möchten Sie dem Zeugen nun stellen?«
Der Rechtsanwalt wandte sich nun an mich. »Es wäre wirklich sehr hilfreich, Dr. Courtine, wenn Sie sich an irgend etwas erinnern könnten, das beweisen würde, daß das Dokument, das Sie gesehen haben, tatsächlich das Testament von Mr. Stonex war.«
»Ich fürchte, ich kann Ihnen nicht mehr dazu sagen, als ich es bereits getan habe: Er hat etwas in die Tasche gesteckt, das er offenbar im Uhrenkasten gefunden hatte.«
Mr. Thorrold neigte den Kopf zur Seite und fragte mich mit dem gewinnendsten Lächeln: »Er hat es wie etwas Wertvolles sorgfältig in die Tasche geschoben und nicht nur achtlos weggesteckt, als habe es keine besondere Bedeutung?«
»Ich kann über meine bisherige Aussage nicht hinausgehen«, antwortete ich.
Der Rechtsanwalt dankte mir sehr liebenswürdig, setzte sich und sprach leise mit Dr. Locard.
Nun erhob sich Sergeant Adams, und der Coroner fragte ihn: »Möchten Sie dem Zeugen eine Frage stellen?«
»Ja, Sir. Ich habe Ihnen mit großem Interesse zugehört, Dr. Courtine, und ich glaube, daß Sie in einigen Punkten der Wahrheit auf der Spur sind. Aber einige bedeutende Fragen sind noch immer nicht geklärt. Warum hat Mr. Stonex Ihrer Meinung nach die Nachricht mit den Anweisungen für Perkins auf die Schultafel geschrieben?«
»Er brauchte jemanden, dem er den Mord in die Schuhe schieben konnte. Er dürfte vorgehabt haben, sich selbst als der mysteriöse Fremde zu verkleiden und das Päckchen wieder abzuholen. Aber aus irgendeinem Grund mußte er diesen Teil seines Plans wohl aufgeben.«
»Ach so. Und warum hat er blutbeflecktes Geld in das Päckchen getan?«
»Damit man Perkins für den Mörder hielt, sofern er das Päckchen nicht wieder abholte.«
»Ich hatte mir schon gedacht, daß Sie das sagen würden, Sir, und, ich will es offen sagen, mein eigener Verdacht geht in die gleiche Richtung.« Er hielt inne, als sei ihm die Frage, die er als nächstes stellen wollte, peinlich. »Könnten Sie zu Dr. Carpenters Überzeugung, daß der Ermordete bereits um vier Uhr gestorben sei, etwas sagen?«
Diese Frage hatte mich auch beunruhigt, denn mir war der Gedanke gekommen, daß der Arzt bestochen worden sein mußte, damit er diese unglaubliche Aussage machte. Wenn ich jedoch an die Arroganz dachte, die der junge Mann in der Kathedrale an den Tag gelegt hatte, konnte ich nicht umhin anzunehmen, daß er zu stolz sei, um seine Integrität für Geld zu verkaufen. »Ich kann mir nur vorstellen«, erwiderte ich zögernd, »daß Dr. Carpenters Glaube an seine eigene Kompetenz sich in diesem Punkt – wenn auch nur in diesem – als etwas verfrüht erwiesen hat.«
Zu meiner Befriedigung reagierten die Zuschauer mit unterdrücktem Gekicher, und auch der Coroner lächelte dünn. Adams machte ein enttäuschtes Gesicht und setzte sich wieder auf seinen Platz.
»Ich danke Ihnen, Sergeant«, sagte der Coroner, und dann zu mir gewandt: »Und Ihnen natürlich auch, Dr. Courtine. Ich glaube nicht, daß wir Sie noch
Weitere Kostenlose Bücher