Die schwarze Kathedrale
Jahre zurückliegt!«
»Das ist nicht wahr«, gab ich zurück. »Wenn ich dir nicht schon vor Jahren verziehen hätte, wäre ich nicht gekommen, um dich zu besuchen.«
»Du hast mir verziehen«, wiederholte Austin spöttisch. »Wie großmütig von dir!«
Ich sah in sein höhnisches, trunkenes, bösartiges Gesicht und verstand nicht mehr, wie ich je hatte glauben können, daß ich ihm vergeben hätte, und daß er jemals etwas anderes als Böses gegen mich im Schilde geführt haben könnte.
»Sie können sich wieder setzen, Mr. Fickling«, sagte der Coroner.
Fickling schlurfte auf seinen Platz zurück. Mr. Attard wandte sich an mich: »Dr. Courtine, ich verstehe nicht, was Sie meinten, als Sie sagten, das Opfer sei bereits tot gewesen, bevor Sie das Haus betraten.«
»Ich meinte«, sagte ich, »daß Mr. Stonex seinen Bruder getötet hatte, bevor Fickling und ich ankamen. Er lag im Studierzimmer.«
»Dr. Carpenter hat bereits ausgesagt, daß das unmöglich der Fall sein kann«, erklärte Mr. Attard. »Der Tote ist ohne Zweifel Mr. Stonex, der Bankier, und nicht irgendein hypothetischer Bruder.«
Ich wollte gerade den Mund aufmachen, um zu sagen, daß man den Doktor offensichtlich bestochen hatte, überlegte es mir aber noch einmal.
»Und deshalb möchte ich den Geschworenen raten«, fuhr der Untersuchungsbeamte fort, »diese Ente aus ihren Überlegungen auszuschließen. Trotzdem vielen Dank, Dr. Courtine.«
Ich setzte mich und warf einen Blick zu Fickling und Slattery hinüber. Letzterer lächelte seinem Freund zu, der immer noch zitterig und blaß war, jedoch nickte. Es wurde mir klar, daß das, was ich zuletzt gesagt hatte, weit davon entfernt war, die beiden zu erschrecken; es hatte sie ganz im Gegenteil eher wieder beruhigt. Ich mußte also sehr nah an die Wahrheit herangekommen sein, ohne sie allerdings wirklich zu erraten. Ich erlebte noch eine zweite Überraschung, denn in diesem Augenblick wandte sich Dr. Locard mit einem ermutigenden Lächeln zu mir um.
Der Untersuchungsbeamte verkündete, daß keine weiteren Zeugen mehr befragt werden würden und daß er nunmehr sofort zu seiner Ansprache an die Geschworenen übergehen würde.
»Einige der Zeugen, die Sie heute gehört haben«, begann er, »haben versucht, einen sehr einfachen Tatbestand unnötig zu verkomplizieren. In meiner langen Dienstzeit als Coroner habe ich jedoch die Erfahrung gemacht, daß es bei jeder Tat Aspekte gibt, die man nie ganz verstehen kann. Das ist besonders in diesem Fall unvermeidlich, weil wir es hier mit dem perversen Gemüt eines menschlichen Wesens zu tun haben, das fähig ist, einen kaltblütigen Mord zu begehen. Daher ist es falsch, nach der aufgeklärten Rationalität zu suchen, welche die gehobenen Repräsentanten unserer Spezies leitet. Ich möchte Ihnen daher raten, den Fall in seiner ganzen offensichtlichen, wenn auch brutalen Einfachheit zu sehen. Die Aussage von Dr. Carpenter zum Zeitpunkt, zu dem der Tod eingetreten ist, sollten Sie mit der gebotenen Skepsis betrachten. Auch die phantasievolle Theorie von Dr. Courtine, die mehr wie die Handlung eines Sensationsromans als wie eine Zeugenaussage anmutet, sollten Sie unbeachtet lassen. Jede zuverlässig bewiesene Tatsache weist auf Perkins als den Mörder hin: die Zeugenaussage, daß Mr. Stonex ihn um halb sechs in sein Haus eingelassen hat, die bei ihm zu Hause versteckten, blutverschmierten Banknoten sowie die Tatsache, daß er seine Schilderung der Ereignisse mit jedem Beweis, der gegen ihn vorgebracht wurde, veränderte. Die Geschworenen mögen sich jetzt bitte einigen, ob sie sich hier und jetzt in der Lage fühlen, zu einem Urteil zu gelangen, oder ob sie sich lieber in das Beratungszimmer zurückziehen möchten, das ihnen zur Verfügung steht.«
Die Männer sprachen kurz miteinander, dann erklärte der Sprecher, ein stämmiger rotgesichtiger Mann, der wie ein wohlhabender Ladenbesitzer aussah: »Wir brauchen uns nicht zurückzuziehen, Euer Ehren. Wir haben uns bereits entschieden.«
»Sehr gut. Zu welchem Ergebnis sind Sie gekommen?«
»Wir sind zu dem Schluß gekommen, daß der Verstorbene von Edward Perkins getötet und erschlagen wurde.«
Ein Aufschrei des Entsetzens war zu hören, so als ob jemand körperlich mißhandelt worden wäre. Wir alle sahen zu dem Gefangenen hinüber, dessen Gesicht vor Angst und Schrecken verzerrt war. Der Coroner verfügte, daß er bis zu seiner Gerichtsverhandlung in Untersuchungshaft zu verbleiben habe, und wir sahen
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