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Die schwarze Kathedrale

Die schwarze Kathedrale

Titel: Die schwarze Kathedrale Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles Palliser
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an. »Ja, so muß es gewesen sein. Ich habe mich wohl in der Zeit geirrt, aber an den Vorgang kann ich mich ganz genau erinnern. Es war erst nach unserem Gespräch. Ich konnte in dieser Nacht nicht schlafen, und deshalb habe ich, als du schon im Bett warst, noch einen Spaziergang gemacht, und unterwegs habe ich Mr. Stonex getroffen.«
    »Wo hast du ihn getroffen?«
    »Als ich an der Rückseite des neuen Dekanats vorbeikam, wollte er gerade hineingehen.«
    Er log. In dieser Sache konnte er sich nicht irren – egal, wieviel er in dieser Nacht oder auch schon früher am Tag getrunken haben mochte. Und wenn er log, dann hatte er einen Grund dafür, und das eröffnete einige sehr beunruhigende Möglichkeiten. Es war nicht Vergeßlichkeit oder seine mysteriöse Leidenschaft, die ihn veranlaßt hatten, die Einzelheiten zu leugnen, die ich beschrieben hatte. Plötzlich hatte ich das Bedürfnis, die Wahrheit um jeden Preis ans Licht zu bringen.
    »Und wo bist du danach hingegangen?« fragte ich ihn. Ich wußte, daß es ihn sehr in Verlegenheit bringen mußte, wenn hier öffentlich über seinen nächtlichen Besuch geredet wurde.
    »Dr. Courtine«, unterbrach der Coroner, »ich kann mir nicht vorstellen, daß diese Frage irgendwie relevant sein sollte.«
    »Ich habe einen bestimmten Grund, sie zu stellen, Mr. Attard. Wenn Sie bitte noch einen Augenblick lang Geduld mit mir haben wollen, werden Sie ihn bestimmt auch erkennen.«
    Der Coroner nickte. Austin starrte mich an, die Hände um das Geländer des Zeugenstands geklammert. »Wo ich hingegangen bin? Nirgendwohin. Ich bin nur zwanzig Minuten lang in der Stadt herumgelaufen und dann wieder nach Hause gegangen.«
    »Und du bist nicht in ein Haus hineingegangen?«
    Er sah mich wütend an. »Nein, nein, ich bin in kein Haus gegangen.«
    »Das ist aber seltsam. Weißt du, ich konnte nämlich auch nicht schlafen, und als ich hörte, daß du die Treppe hinuntergingst, bin ich dir gefolgt.« Ich konnte an seinem Gesicht erkennen, daß er keine Ahnung davon gehabt hatte und daß diese Eröffnung ihn in Angst und Schrecken versetzte. »Ich habe versucht, dich einzuholen, aber du warst zu schnell für mich und verschwandest in dem Gäßchen, das vom Domplatz in die Orchard Street führt.«
    Im Raum herrschte absolutes Schweigen.
    Austin hatte offensichtlich Angst. An dem, was ich in jener Nacht gesehen hatte, mußte etwas sein, das ihn erschreckte. Wenn ich nur erkennen könnte, was es war, aber ich verstand einfach nicht, wie das alles zusammenhing: die geheimnisvolle Frau, die Appleton gesehen hatte, der Bruder des Opfers, das Chaos im Haus. Mir kam plötzlich der Gedanke, daß noch eine zweite mysteriöse Frau in den Fall verwickelt war: die Frau, die in den frühen Morgenstunden am Donnerstag in jenem Haus in der Orchard Street gewesen war, aber ich konnte mir nicht vorstellen, was sie mit Austins unverkennbarer Angst zu tun haben sollte.
    Ich wandte mich an den Coroner: »Mr. Attard, ich glaube, daß die Tat mit Absicht so begangen wurde, daß wir alle uns über den Zeitpunkt täuschen sollten, zu dem sie stattfand. Ich nehme an, daß das Opfer viel früher als vermutet ermordet wurde.«
    Austin starrte mich mit kreidebleichem Gesicht an. Ich bemerkte, daß Sergeant Adams sich vorgebeugt hatte und mich gespannt ansah, während der Coroner mit erhobenem Bleistift bewegungslos dasaß.
    Ich wandte mich wieder an Austin. »Ich glaube, daß das Opfer bereits tot in einem anderen Zimmer lag, noch bevor wir beide zum Tee kamen.«
    Unter den Zuschauern erhob sich ein so lautes Stimmengewirr, daß ich vermutlich der einzige war, der hörte, wie Austin ausrief: »Und wer hat uns dann mit Tee bewirtet?«
    Diese Bemerkung erstaunte mich. Sie erschien mir so sinnlos. Zufällig fiel mein Blick auf Slattery, der Austin mit einem Ausdruck furchterregender Anspannung anstarrte und mit den Lippen Worte formte, die ich nicht verstand.
    »Jetzt verstehe ich, was du vorhast!« schrie Austin. »Aber ich habe nichts damit zu tun. Ich habe den ganzen Nachmittag unterrichtet – Dutzende von Leuten können das bezeugen. Ich stand bis nach vier Uhr vor meiner Klasse, und danach war ich mit dir zusammen, von dem Augenblick an, als die Bibliothek schloß, bis der Ermordete von der Polizei gefunden wurde.«
    »Bitte, meine Herren«, rief der Coroner. »Mr. Fickling, so beruhigen Sie sich doch.«
    Austin wandte sich an ihn: »Dieser Mann hegt einen Groll gegen mich, wegen eines Streites, der mehr als zwanzig

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