Die schwarze Kathedrale
Fälschungen abgetan. Es kommt jedoch ständig vor, daß irgendein Umstand oder ein Motiv in der historischen Überlieferung fehlt, mit dem sich diese scheinbaren Unstimmigkeiten erklären ließen. Ich bin lediglich der Meinung, daß der Historiker versuchen sollte, die fehlenden Teile des Puzzles zu finden.«
»Da kann ich Ihnen nicht zustimmen. Der Historiker hat die Verpflichtung, sich an die Fakten zu halten und sich nicht irgendwelche phantastischen Geschichten aus den Fingern zu saugen. In dem Fall, von dem gerade die Rede ist, wissen wir, daß Limbrick einen Grund hatte, Gambrill zu hassen, und daß er später seine Witwe heiratete. Das ist ausreichend, um die einfache und offensichtliche Erklärung zu akzeptieren, daß die beiden Männer gemeinsam Burgoyne töteten und anschließend Limbrick seinen Vorgesetzten umbrachte. Es wäre unlogisch, wenn nicht geradezu pervers, das nicht zu akzeptieren.«
Ich wandte mich an Mrs. Locard. »In diesem Punkt bin ich überstimmt. Der Coroner hat heute nachmittag genau das gleiche gesagt, als er den Geschworenen einschärfte, sie dürften einer Theorie von mir keinen Glauben schenken.«
Das Hausmädchen reichte mir die Platte mit dem Fleisch, das ihr Herr gerade aufgeschnitten hatte. »Ich gebe gern zu«, begann Dr. Locard, »daß die Erklärung des Mordes an dem alten Herrn, die der Coroner den Geschworenen nahelegte, einige – bedeutungslose – Unstimmigkeiten aufweist …«
Ich konnte mich nicht enthalten, ihn zu unterbrechen: »Der Zeitpunkt des Todes? Die teuflische Zerstörung des Gesichts des Opfers? Das soll unbedeutend sein?«
Der Bibliothekar fuhr fort, als hätte ich nichts gesagt: »Das, worauf es ankommt, ist jedoch sehr einfach. Perkins wurde gedungen, den Mord zu begehen. Er wurde dafür bezahlt, daß er den alten Herrn tötete und das Testament sicherstellte.«
»Sie glauben das nicht?« fragte Mrs. Locard.
»Ich bin überzeugt, daß der junge Mann unschuldig ist.«
»Ich bin, ehrlich gesagt, überrascht, daß Sie so etwas sagen«, meinte ihr Mann. »Ich hoffe jedoch, daß bis zu seiner Gerichtsverhandlung bewiesen werden kann, daß zwischen ihm und der Schwester eine Verbindung besteht.«
»Dann ist das Testament also nicht aufgetaucht, und sie wird erben?« fragte seine Frau.
»Perkins muß Geld für den Mord erhalten haben«, fuhr Dr. Locard fort. »Ich nehme an, daß dafür ein Beweis gefunden werden wird.«
»Nein«, beantwortete ich Mrs. Locards Frage. »Das Testament ist nicht aufgetaucht.« Ich war überrascht, daß ihr Mann ihr das noch nicht erzählt hatte.
»Man wird es auch nicht mehr finden«, erklärte Dr. Locard. »Perkins hat es an sich genommen, als er das Haus auf den Kopf stellte. Diese Tatsache muß ans Licht gebracht werden. Und deshalb, Dr. Courtine, ist es ratsam, daß Sie, wenn Sie bei seiner Gerichtsverhandlung im Zeugenstand stehen, die ganze Angelegenheit nicht noch verworrener machen, indem Sie sagen, daß das Haus schon vorher durchwühlt worden sei. Das würde die Geschworenen nur verwirren.«
»Ist das auch eine unbedeutende Unstimmigkeit?« fragte ich.
Er sah mich scharf an. »Genau das. Und versuchen Sie auch alles andere zu vermeiden, was die Angelegenheit nur noch undurchsichtiger macht, wie die Behauptung, daß der alte Herr die Nachricht von der Tafel gewischt habe, die Sie plötzlich aufs Tapet brachten, obwohl Sie der Polizei anfangs nichts davon gesagt hatten.«
»Mein Gedächtnis war blockiert, und ich habe mich buchstäblich erst in jenem Augenblick daran erinnert.«
Dr. Locard meinte sehr vorsichtig: »Sie haben sich an soviel erinnert, daß ich hoffe, daß Ihnen noch mehr einfallen wird.«
»Das ist sehr gut möglich«, erwiderte ich. »Mit dem Gedächtnis ist das eine seltsame Sache.«
Wir hatten gerade erst angefangen zu essen, aber er legte Messer und Gabel wieder aus der Hand und begann: »Es wäre nur sehr wenig vonnöten. Thorrold hat mir versichert, daß eine eidesstattliche Erklärung von Ihnen genügen würde, damit das Testament von Mr. Stonex vollstreckt werden könnte. Er hat es nach dem Entwurf rekonstruiert.«
»Thorrold? Der Testamentsvollstrecker von Mr. Stonex?«
»Er vertritt auch das Domkapitel.«
Ich war verwundert. Ob es allzu penibel von mir war, zu meinen, daß der Rechtsanwalt sich damit ganz offensichtlich in einem Interessenkonflikt befand?
»Ein solcher Schritt würde natürlich von der Schwester angefochten werden, aber Thorrold ist der Meinung, daß wir gute
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