Die schwarze Kathedrale
einen Brief. Er entschuldigte sich bei mir, öffnete ihn und fing an zu lesen. »Es tut mir furchtbar leid, aber dies ist eine Aufforderung, sofort ins Dekanat zu kommen.«
»So spät am Abend noch?« rief seine Frau aus.
»Es ist etwas vorgefallen, das der Dekan mit mir besprechen möchte.«
»Aber Robert, du hast kaum etwas gegessen.«
»Ich bitte Sie um Verzeihung«, sagte er zu mir. »Bitte essen Sie weiter und nehmen Sie ihre Nachspeise zu sich. Ich hoffe, sehr bald wieder zu Ihnen zu stoßen.«
Sowie er uns allein gelassen hatte, sagte ich: »Ich muß Sie um Verzeihung für mein unhöfliches Betragen bitten. Ich weiß selbst nicht, warum ich so unfreundlich war.«
»Ich hätte Ihnen keine solche Frage stellen dürfen«, antwortete sie.
»Aber nein. Ich war im Unrecht. Aber ich bin noch immer so aufgewühlt wegen der Ereignisse der letzten beiden Tage.«
»Es tut mir so leid, daß Sie in diese fürchterliche Geschichte mit dem armen Mr. Stonex verwickelt wurden. Das muß wirklich ganz entsetzlich für Sie sein.«
»Und außerdem habe ich gerade eine der unerfreulichsten Erfahrungen meines Lebens gemacht: festzustellen, daß ein alter Freund … kein Freund ist.«
Ich blickte auf und sah, daß ihre grauen Augen auf mir ruhten. »Heute nacht hatte ich einen ganz entsetzlichen Alptraum. Oder besser gesagt, heute morgen. Ich wachte in abgrundtiefer Verzweiflung auf, die mich den ganzen Tag nicht mehr verlassen hat. Es ist seltsam, daß das, was mich am meisten erschüttert, etwas ist, das eigentlich gar nicht wirklich geschehen ist.«
»Es wundert mich überhaupt nicht, daß Sie einen Alptraum hatten. Sie waren in den letzten zwei Tagen soviel mit dem Tod, mit gewaltsamem Tod, konfrontiert.«
»Aber damit schien der Traum nichts zu tun zu haben. Ich schätze, daß er durch eine Geschichte ausgelöst wurde, die ich vor kurzem gelesen habe – eine törichte Sache, die mich erschüttert hat, ohne daß ich sagen könnte, warum. Ich glaube nicht, daß es der Tod ist, der mich erschreckt, denn als ich heute morgen Burgoynes Leiche vor mir liegen sah, fand ich das nur traurig und bewegend. Selbst Mr. Stonex. Er ist auf abscheuliche Weise ums Leben gekommen, aber jetzt hat er seinen Frieden. Was mich so erschüttert, ist das Gefühl des Bösen.«
»Weil beide Männer ermordet wurden?«
»Mord ist nur ein Teil davon. Denn das Böse manifestiert sich nicht nur in Form von Mord. Und der Himmel weiß, daß nicht jeder Mord durch das Böse verursacht wird.«
Sie sah mich verständnislos an, und ich fuhr deshalb fort: »Wenn zum Beispiel Perkins Mr. Stonex getötet hätte, dann wäre das eine Folge von Geldgier und Dummheit gewesen, aber keine Manifestation des Bösen.«
»Aber Sie glauben nicht, daß er es getan hat?«
»Nein. Ich bin mir ganz sicher, daß Mr. Stonex aus echter Bosheit getötet worden ist, und das ist es auch, was mich so erschüttert.« Ich hatte nicht die Absicht, ihr das brutal zerschmetterte Gesicht des alten Mannes zu beschreiben. »Die Überzeugung, daß ich mich im Angesicht des Bösen befunden habe.«
»Mit diesem Wort kann sehr Unterschiedliches gemeint sein.«
»Für mich bedeutet es die Freude, anderen Schmerz zuzufügen und andere leiden zu sehen.«
»Kann irgendeiner von uns sich dessen völlig freisprechen?« Es verblüffte mich, diese Worte ausgerechnet aus ihrem Munde zu hören.
Wahrscheinlich war meine Überraschung der Grund, warum ich antwortete: »Heute habe ich diese Eigenschaft jedenfalls an mir selbst entdecken müssen, und ich glaube, das ist es, was mich am allermeisten erschreckt.«
Mein Geständnis schien sie nicht weiter zu beunruhigen. »Wenn wir ehrlich sind, werden wir uns alle eingestehen müssen, nicht frei davon zu sein. Unsere Religion lehrt uns zwar, Böses mit Gutem zu vergelten, aber das ist sehr schwer.«
Ich mochte ihr nicht sagen, daß ihre Religion nicht die meine war. Und hatte ich denn wirklich allen christlichen Aberglauben abgelegt, wenn ich immer noch vom Bösen sprach?
»Es ist ganz besonders dann schwer, wenn derjenige, der einen grausam behandelt, einmal ein Freund gewesen ist und deshalb um so besser weiß, wie er einen treffen kann.«
»Meinen Sie nicht, daß nur solche Menschen den Wunsch haben können, andere zu quälen, die selbst auch sehr unglücklich sind?«
»Wahrscheinlich haben Sie recht. Dennoch bin ich schockiert über die Bösartigkeit, die er mir gegenüber an den Tag gelegt hat, über seine Wut und über die Stärke
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