Die schwarze Kathedrale
Ende gesprochen hatte. Und vielleicht weil sie das spürte, erwiderte Mrs. Locard: »Ich glaube, daß man noch viel einsamer sein kann, wenn man nicht alleine ist.«
Ihre Offenheit überraschte mich. Ich hatte genug davon gesehen, wie ihr Mann sich ihr gegenüber betrug, um mir ein Bild von ihrem Zusammenleben machen zu können. In diesem Moment drängte sich mir der Anblick wieder auf, der sich mir vor zwei Stunden bei Fickling geboten hatte, und ich hatte plötzlich das Gefühl, als hätte ich ein Leben ohne allen Mut und ohne jedes Wagnis geführt. Wenigstens daran hatte es Burgoyne und Fickling nicht gefehlt.
»Besonders«, fügte sie hinzu, »wenn man keine Kinder hat.«
»Das ist auch mein großer Kummer«, erwiderte ich und mußte daran denken, daß Sisterson mir erzählt hatte, daß sie ein Kind verloren habe. »Je älter ich werde, desto mehr bedaure ich das.«
Sie lächelte mich traurig an. »Ich habe schon erlebt, daß Herren, die wesentlich älter waren als Sie, heirateten und noch Kinder hatten.«
»Was das Heiraten angeht, so habe ich meine einzige Chance schon gehabt.«
»Aber ich dachte, Sie hätten gesagt, Sie haben keine Frau?«
»Ich kann nicht heiraten. Ich war vorhin nicht nur unhöflich, ich war auch nicht ganz ehrlich. Ich habe Ihnen gesagt, daß ich keine Frau hätte. In Wirklichkeit …« Ich brach ab.
»Sie brauchen nichts zu sagen«, flüsterte sie sanft.
»Sie hat mich verlassen. Ich war vollkommen vernichtet. Es fällt mir leichter, den Eindruck zu erwecken, sie sei tot. Ich habe immer versucht, mir einzubilden, sie sei tot. Aber jetzt weiß ich, daß das falsch war. Nicht sie ist all die Jahre tot gewesen, sondern ich.«
»Ich kann Sie so gut verstehen. Wenn man liebt, vertraut man dem geliebten Menschen sein eigenes Wertgefühl an, und wenn einen dieser Mensch dann wegwirft, ist man überzeugt, daß man wertlos ist. Das ist eine Art Tod.«
»Genau das habe ich empfunden. Darf ich Ihnen die ganze Geschichte erzählen?«
»Wollen Sie das wirklich?«
»Ja, obwohl ich noch nie mit einem Menschen darüber geredet habe. Aber ich habe genug gelogen und verheimlicht und möchte jetzt endlich die Wahrheit sagen. Das heißt, wenn es Ihnen nichts ausmacht, sich eine so alltägliche Geschichte anzuhören.«
»Jede Geschichte ist einmalig.«
»Vor zwanzig Jahren heiratete ich eine Frau – eigentlich ein Mädchen, denn sie war zehn Jahre jünger als ich. Sie war die Tochter des Direktors von einem College in Oxford, und sie war sehr schön. Sehr süß und sehr schön. Ich liebte sie, und ich glaubte – und glaube es noch heute –, daß sie mich auch geliebt hat – jedenfalls am Anfang. Und zunächst waren wir auch sehr glücklich. Zunächst! Aber dann ging alles so schnell. Die Zeit, die wir miteinander verbracht haben, war so kurz – nur ein paar Monate. Als ich sie zum ersten Mal sah, war sie erst fünfzehn. Dann wurde sie zur Erziehung ins Ausland geschickt, und ich sah sie lange nicht wieder, bis zu einem Weihnachtsfest. Ich war gerade Fellow an meinem alten College – Colchester – geworden. Im Januar machte ich ihr einen Heiratsantrag, und im April heirateten wir. Nach den Flitterwochen, die wir bei Verwandten meiner Frau in einem schottischen Schloß verbrachten, zogen wir in ein Haus, das meinem College gehörte. Damals waren wir glücklich. Ich hatte einen Freund. Einen alten Freund aus meiner Studentenzeit. Er hatte nicht den akademischen Grad erreicht, den er sich zum Ziel gesetzt hatte, und deshalb hatte er seine Hoffnung begraben müssen, Fellow zu werden, aber er war in Cambridge geblieben und unterrichtete an einer der Chorschulen. Er war witzig und charmant und brachte meine Frau zum Lachen. Er konnte auch singen und Flöte spielen, und meine Frau sang und spielte Klavier, und so machten sie abendelang miteinander Musik. Und ich war dankbar, denn ich fürchtete, daß unser Zusammenleben ziemlich langweilig für sie war. Sie muß auch einsam gewesen sein, denn sie kannte kaum jüngere Frauen in Cambridge. Ich ging ganz in meinen Pflichten und meinen historischen Studien auf, denn ich war Junior Dean meines Colleges geworden und verbrachte den ganzen Tag im College und die meisten Abende in der Bibliothek. Dann begann mein Freund, einen seiner Freunde mitzubringen. Ich war ein Narr, ein selbstgefälliger, eingebildeter Narr. Eigentlich brauche ich gar nicht mehr weiterzuerzählen.«
»Fahren Sie fort, wenn Sie möchten«, sagte sie sehr sanft.
»Ich wußte und
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