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Die schwarze Kathedrale

Die schwarze Kathedrale

Titel: Die schwarze Kathedrale Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles Palliser
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des andern seltsam tröstlich, weil wir daraus nämlich schließen, daß derjenige noch immer an uns interessiert ist. In Wirklichkeit ist der Schmerz, den wir empfinden, aber nicht das, was der andere beabsichtigt hat, sondern nur eine Nebenwirkung. Die Wahrheit ist häufig, daß der andere für uns nach einer Weile gar nichts mehr empfindet. Der Schmerz, von dem wir glauben, daß der andere ihn uns zufügt, ist somit etwas, was wir uns selbst schaffen, weil er mit einer gewissen Genugtuung für uns verbunden ist.«
    Es fiel mir schwer, das zu akzeptieren, und doch wußte ich, daß sie recht hatte. Ich hatte nach der Erinnerung an sie gegriffen wie nach einem Dorn, der mir weh tat, weil das immer noch besser war, als sie ganz und gar zu verlieren. Und dann dämmerte mir die Erkenntnis, daß ich mich wegen meines Verhaltens, mir ständig selbst Schmerz zuzufügen, den beiden gegenüber moralisch überlegen gefühlt hatte. »Dann meinen Sie also, daß ich in die Scheidung einwilligen sollte?«
    »Ich finde, daß Sie sie sich selbst zugestehen sollten.« Als sie sah, wie bestürzt ich war, fuhr sie fort: »Wäre es nicht für Sie selbst das Beste, wenn Sie das alles endlich hinter sich lassen könnten? Wenn Sie den Schwierigkeiten sowohl für die Frau als auch für Sie selbst ein Ende bereiten würden?«
    »Für mich? Die Tatsache, daß wir vor dem Gesetz immer noch verheiratet sind, macht für mich keinen Unterschied.«
    »Wirklich nicht? Ist es nicht so, als würde man die Beerdigung nach einem Todesfall hinauszögern? Erst wenn die Beerdigung vorbei ist, kann der Prozeß des Trauerns beginnen.«
    »Beginnen? Ich trauere seit zwanzig Jahren!«
    »Aber wenn man trauert, läßt man irgendwann die Vergangenheit hinter sich«, erwiderte Mrs. Locard mit einem Lächeln, das den Vorwurf milderte, »und das haben Sie nicht getan.«
    »Man kann die Vergangenheit nicht hinter sich lassen«, gab ich zurück. »Man ist seine Vergangenheit. Als Historiker muß ich davon überzeugt sein.«
    Sie schien nach den richtigen Worten zu suchen. »Aber ihnen die Scheidung vorzuenthalten hat rechtliche und emotionale Konsequenzen. Es hindert die beiden daran zu heiraten, aber Sie selbst können es auch nicht tun.«
    Ich lächelte sie überrascht an. Dies war wirklich ein ganz und gar ungewöhnliches Gespräch.
    Sie lächelte zurück. »Warum nicht? Männer sind soviel besser dran als wir Frauen. Sie können in einem Alter noch heiraten und sogar Kinder haben, wenn nach allgemeiner Ansicht das aktive und nützliche Leben einer Frau bereits vorüber ist.«
    »Das würde bedeuten, daß ich den beiden verzeihen müßte, und warum sollten sie alles haben und ich gar nichts, obwohl sie doch die Schuldigen sind?«
    »Sie haben sich sehr schlecht benommen – Ihre Frau, ihr Liebhaber und auch Ihr Freund – und Sie haben jedes Recht, das so zu empfinden. Aber ich weiß aus eigener Erfahrung, daß wir mit uns selbst meistens sehr viel strenger ins Gericht gehen als mit anderen. Und wenn Sie so hart über sie urteilen, habe ich den Verdacht, daß Sie sich selbst noch größere Vorwürfe machen.«
    »Daß ich mir selbst Vorwürfe mache? Dafür, daß ich nicht mehr auf der Hut war?«
    Sie sah mich zustimmend an.
    »Natürlich bin ich nicht frei von Schuld. Ich war naiv und leichtgläubig, und das lag vermutlich daran, daß ich selbstgefällig genug war anzunehmen, daß die Liebe meiner Frau zu mir stärker als alles andere sein müßte.«
    Mrs. Locard schwieg, und nach einer Weile fragte ich: »Glauben Sie, daß ich ihr verzeihen und die Beziehung hätte weiterführen sollen?«
    »Dr. Courtine, ich würde es mir nicht im Traum anmaßen, ein derartiges Urteil zu fällen. Aber so, wie sie diese Zeit beschrieben haben, hatten Sie wohl keine andere Wahl. Sie haben gesagt, daß Sie einfach nicht mit ihr reden konnten.«
    »Ich befand mich in einem solchen Gefühlschaos!« Schon als ich diese Worte aussprach, spürte ich, wie wenig sie aussagten. Ich hätte gern mehr erzählt, ihr erklärt, was in mir vorgegangen war, ihr gesagt, daß ich das Mädchen, das ich geliebt hatte, nicht mit der Frau in Einklang hatte bringen können, die mich, wie ich glaubte, bewußt verletzt hatte, aber in diesem Augenblick öffnete sich die Tür und Dr. Locard kam herein. Er hatte Hut und Mantel abgelegt, trug jedoch einen fast dreißig Zentimeter langen Holzkasten unter dem Arm, den er sorgsam auf einem Seitentisch abstellte. Als er sich umwandte und uns neugierig musterte,

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