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Die schwarze Kathedrale

Die schwarze Kathedrale

Titel: Die schwarze Kathedrale Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles Palliser
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gekommen? Ich meine sehr viel später, gegen zwei Uhr?«
    Er runzelte die Stirn. »Ja, dieser Mr. Slattery. Er hatte irgendwie von den Problemen hier gehört und kam, um sich zu erkundigen, welche Auswirkung sie auf die Orgel haben könnten. Der Vorarbeiter sagte ihm, daß sie für mehrere Wochen gesperrt werden müsse. Er machte keinen sehr begeisterten Eindruck.«
    Ich dankte ihm. Er hatte mir nur bestätigt, was ich bereits erraten hatte: Er hatte von Fickling meine Neuigkeit über die Kalamität in der Kathedrale gehört und wissen wollen, ob er am Freitag nachmittag – dem ursprünglichen Termin für die Einladung zum Tee – auf der Orgel würde spielen können, denn damit wollte er sich ein Alibi verschaffen. Wegen der Auskunft, die ihm der Vorarbeiter erteilt hatte, hatten die am Komplott Beteiligten dann noch in der gleichen Nacht in seiner Wohnung in der Orchard Street beschlossen, die ganze Verschwörung einen Tag vorzuverlegen.
    Als der alte Küster gerade nicht herschaute, ergriff ich eine der auf einem Grabmal abgestellten Laternen und ging zu der Tür, die zum Turm führte. Ich hatte eine bestimmte Vorstellung, was ich dort oben finden würde, und ich brannte darauf, mich zu überzeugen, ob ich recht hatte. Ich probierte einen der Schlüssel aus, die ich aus Dr. Locards Haus entwendet hatte, indem ich sie scheinbar aus Versehen an Stelle meiner eigenen eingesteckt hatte. Mir kam der Gedanke, daß ich mich zu einem recht geübten Dieb zu entwickeln begann: erst die Photoplatten, dann die Schlüssel und jetzt die Laterne. Der zweite Schlüssel paßte und ließ sich umdrehen. Ich hatte mich darauf verlassen, daß es in den letzten zweihundert Jahren keinen Grund gegeben hatte, das Schloß durch ein anderes zu ersetzen.
    Burgoyne war in dieser dreifach schicksalhaften Nacht, immer noch »äußerlich im Gewand der Heiligkeit«, hierhergekommen und hatte eben diesen Schlüssel verwendet, um diese Tür zu öffnen. Aus Dr. Locards Erklärung, daß die Domherren sich gegenseitig vertraten, hatte ich geschlossen, daß sich am Schlüsselbund für die Chorschule, den Burgoyne sich vom Kantor geliehen hatte, auch der Schlüssel zum Turm befinden mußte, weil der Kantor während der Krankheit des Domkustos ja dessen Pflichten übernommen hatte.
    Ich ging ein Stück weit die schmale Treppe hinauf. Zu meiner Rechten befand sich eine verschlossene Tür, die, wie ich wußte, zur Orgelempore führte. Ich nahm an, daß Slattery diese Tür benutzt hatte, solange sein normaler Aufgang blockiert war, und daß er die Kathedrale am Donnerstag morgen auf diesem Wege verlassen hatte, so daß ich ihn nicht hatte beobachten können. Und ich hatte ihn für eine übernatürliche Erscheinung gehalten! Ich mußte über meine eigene Leichtgläubigkeit lächeln.
    Ich stieg weiter die Wendeltreppe hinauf und versuchte mir vorzustellen, was Burgoyne in jener Nacht wohl empfunden haben mochte, als er den Turm erklomm. Der Sturm tobte, Ziegel zerbarsten, der Donner grollte, und der Wind heulte wie ein verrückt gewordenes Fagott. Sein Inneres war in Aufruhr. Er hatte gerade eine Grenzlinie überschritten, die ihn endgültig von seiner Vergangenheit trennte, von allen anderen Menschen, von allem, was ihm in seinem bisherigen Leben vertraut gewesen war. Der Tod des Jungen hatte ihn nicht gerettet, sondern in die Verdammnis gestürzt, und das mußte ihm schon wenige Minuten nach dem Mord klargeworden sein. Er wußte, daß er verloren war, im wahrsten Sinn des Wortes verloren. Dieses Wissen hatte ich in den letzten Tagen im Gesicht eines anderen Menschen gesehen, und ich hatte begriffen, was es jemandem bedeutete, der die Realität von Rettung und Verdammnis voll und ganz akzeptierte.
    Nun hatte ich das Ende der Treppe ganz oben im Turm, direkt unterhalb des Spitzdaches erreicht. Ich nahm die letzte Biegung, und da sah ich genau das, was ich erwartet hatte: ein großes Holzrad von mehr als doppelter Mannshöhe. Es war nur noch ein Skelett, dem Streben und Speichen fehlten. Es hatte so lange hier oben gestanden, daß vollkommen in Vergessenheit geraten war, wozu es einmal gedient hatte. Aber ich wußte es: Es war eine Tretradwinde mit einem Schwenkarm und zwei seitlichen Felgen. Ein Mann ging im Inneren des Rades, und durch die Drehbewegung wurde auf die Achse der Winde, die durch das Rad lief, genügend Kraft übertragen, um annähernd zwei Tonnen zu heben.
    Die Maschine war hier oben zusammengesetzt worden, während sich die Kathedrale im Bau

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