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Die schwarze Kathedrale

Die schwarze Kathedrale

Titel: Die schwarze Kathedrale Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles Palliser
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sich öffentlich dazu zu bekennen. Ich dachte an die Worte seiner Predigt: »Er allein weiß, wie weit er vom Wege abgekommen ist und einen verderblichen Pfad betreten hat, der in einen Schweinestall voll des widerwärtigsten Unrates führt.«
    Burgoyne mußte in diesen Tagen und Wochen Höllenqualen durchlitten und um die Kraft gerungen haben, nicht weiter auf dem sündigen Weg voranzugehen, auf dem er sich befand. Er hatte entdeckt, wie nahe man daran sein kann, den Menschen, den man liebt, um der Macht willen zu hassen, die diese Liebe dem geliebten Menschen gibt.
    Ich selbst war viele Jahre lang auf diese Weise versklavt gewesen. Jetzt stellte ich plötzlich fest, daß ich frei war. Meine Gefühle für meine Frau waren zu einer Gewohnheit geworden, zu einer äußeren Schale, deren Inhalt allmählich verdorrt war, ohne daß ich es bemerkt hatte. Ich hatte mir ein idealisiertes, sentimentales Bild von ihr zurechtgelegt, wohl auch, um mir die Mühe zu ersparen, ein neues Leben zu beginnen. Mrs. Locard hatte mir zu dieser Erkenntnis verholfen, doch das, was mir schließlich Gewißheit verschafft hatte, war die Bemerkung Ficklings gewesen, mit der er mich hatte verletzen wollen. Indem er mir von den grausamen Worten meiner Frau erzählte – daß sie mich nur geheiratet habe, um von ihrer Mutter wegzukommen –, hatte er mir gezeigt, wie wenig großherzig sie doch gewesen war. Ich hatte sie in meiner Phantasie auf ein Podest erhoben, aber jetzt wußte ich, daß sie eine sehr viel niedrigere Gesinnung gehabt hatte. Das Gespenst war endlich zur Ruhe gelegt worden.
    Was mir am schwersten fallen würde, war, meiner Frau zu schreiben, daß ich nun einer Scheidung zustimmen wollte – und damit zuzugeben, wie kindisch und sentimental ich gewesen war –, und dann ein neues Kapitel meines Lebens zu beginnen. Burgoyne hatte auf andere Weise versucht, sich zu befreien. In seinem Fall war es nicht so sehr der geliebte Mensch gewesen, den er gehaßt hatte, sondern die Liebe selbst, die er für schändlich und widerwärtig hielt. »Er allein weiß, welche Finsternis er in den geheimen Nischen seines Wesens nährt.« Zwei Wochen lang hatte er sich gezwungen, öffentlich davon zu sprechen, wenn auch in verhüllter Form. Sein Gewissen hatte das von ihm verlangt. Er hatte sich verpflichtet, am nächsten Tag die ganze Wahrheit vor der versammelten Gemeinde zu offenbaren. Wenn er nicht noch einen anderen Ausweg fand. Und dann sah er eine Lösung: Während des Sturms kam er mitten in der Nacht hierher zum alten Torhaus, in dem die Chorschule untergebracht war, und öffnete mit seinem Schlüssel die Tür. Mit dem Schlüssel, den ihm der Kantor gegeben hatte, so daß er auch des Nachts kommen und gehen konnte, wie er es vermutlich schon viele Male getan hatte.
    Beim Grollen des Donners und Rauschen des Regens war er die Treppe hinaufgeschlichen, und kurze Zeit – vielleicht nur wenige Minuten oder gar Sekunden lang – hatte er geglaubt, daß er sich mit einer einzigen, entschlossenen Tat für immer befreien könnte. Von Gambrill wußte er, wie man ein Dach zum Einsturz bringen konnte, und unter dem Schutz des Sturmes wollte er von diesem Wissen Gebrauch machen. Er beging eine Tat, die viel entsetzlicher war als alles, was er je zuvor getan hatte, die seinem gepeinigten Gewissen jedoch in diesem Augenblick als das geringere Verbrechen erschien. Und was hatte er danach getan?
    Ich wollte seinen Spuren folgen und dabei versuchen, mir vorzustellen, was in seinem Kopf vorgegangen sein mußte. Ich dachte daran, wie sehr Dr. Locard einen solche Vorgehensweise verachten würde. Was würde ich zu sehen bekommen, wenn ich mich in jene Nacht zurückversetzte und in der Kathedrale versteckte? Ich betrat das düstere Gebäude, das unverschlossen war, weil die Arbeiter noch immer damit beschäftigt waren, den Schaden zu reparieren, den sie angerichtet hatten. Da arbeiten sie, so wie damals, als ich sie in meiner ersten Nacht hier gesehen hatte, wenn auch an einer anderen Stelle. Im Licht weniger Laternen hackten sie in den Eingeweiden des alten Bauwerks herum. Der alte Gazzard drückte sich wie immer in der Dunkelheit herum und zeigte weder Überraschung noch Freude, mich zu sehen.
    Ich begrüßte ihn und fragte ohne Umschweife: »Können Sie sich erinnern, daß ich am Mittwoch spät in der Nacht noch hier war und Sie bei den Arbeitern vorgefunden habe, die nach der Ursache des Geruchs suchten?« Er nickte. »Ist in dieser Nacht sonst noch jemand

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