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Die schwarze Kathedrale

Die schwarze Kathedrale

Titel: Die schwarze Kathedrale Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles Palliser
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befand; ihr Zweck bestand darin, Baumaterial bis in diese Höhe hinaufzutransportieren. Gambrill hatte sie verwendet, als er den Vierungsturm heimlich reparierte und dafür Gelder verbrauchte, von denen ihm später vorgeworfen wurde, er habe sie für seine eigenen Zwecke verwendet. Nach dem Tod seines Meisters hatte Limbrick seine persönlichen Gründe gehabt, die Leute in dem Glauben zu lassen, Gambrill habe sich einer Unterschlagung schuldig gemacht. Oder, um genau zu sein, einer Veruntreuung, dachte ich bitter.
    Mit Hilfe der Inschrift und des Kanzleigerichtsprotokolls hatte ich mir zusammengereimt, was passiert sein mußte: An jenem Tag, an dem Gambrill ein Auge verlor, hatte er die Tretradwinde benutzt. Er wurde mit einer schweren Last heruntergelassen, der ältere Limbrick ging in dem Tretrad, wobei sich das Seil langsam entrollte und die Last hinuntersank. Genau wie es in der Inschrift beschrieben ist: »Alle Dinge drehen sich im Kreise, und der Mensch, der zur Arbeit geboren ist, dreht sich mit ihnen.« Etwa drei Meter über dem Boden riß das Seil, so daß die Ladung zu Boden sauste. Die Winde spulte sich mit großer Geschwindigkeit zurück und das Tretrad begann, sich so schnell zu drehen, daß der Mann darin getötet wurde. Und so lauteten auch die Worte der Inschrift, »in Stücke geschlagen«. Gambrill selbst war gestürzt und schwer verletzt worden, schwerer, als er erwartet hatte, denn ich war mir ganz sicher, daß er das Seil durchtrennt hatte.
    Dr. Locard irrte sich. Die Inschrift war nicht von den Domherren angebracht worden, um die Familie Burgoyne des Mordes an ihrem Dekan zu bezichtigen, sondern von dem jüngeren Limbrick, der damit dokumentieren wollte, daß Gambrill seinen Vater ermordet hatte und dafür bestraft worden sei.
    Ich blickte durch die Verstrebungen auf das Gewölbe hinunter, so wie Burgoyne es in jener Nacht getan haben mußte. Zu seiner Zeit waren Öffnungen im Mauerwerk gewesen, durch die das Baumaterial hindurchpaßte. Oder auch der Körper eines Mannes. Am vergangenen Sonntag hatte Burgoyne angekündigt, daß er in einer Woche an eben diesem Ort bekanntgeben würde, wer der Sünder sei. Sein Körper würde vierzig Meter tief durch das Gewölbe stürzen und vor den Stufen zum Chor gefunden werden. Gerade so wie er selbst es vorausgesagt hatte: »Aber seine Bosheit wird offenbar werden vor den Augen der Menschen. Ja, selbst in der Finsternis werden seine Sünden hinausposaunt werden.«
    Ich wandte mich um, lehnte mich gegen das Geländer und schaute durch die Schallöffnungen. Die riesigen Glocken hingen drohend über mir. In dieser stillen Nacht lag die Stadt friedlich schlafend zu meinen Füßen, und das Gewirr der Dächer und Giebel sah aus wie die dunklen Wellen eines gefrorenen Ozeans. Direkt unter mir erstreckte sich das Labyrinth der kleinen Gassen um die Kathedrale herum, dann kam der Fluß, auf dem das Mondlicht schimmerte, und der Hügel, den ich vor zwei Nächten voller Entsetzen hinaufgehastet war. Ich mußte lächeln, als ich an meine abergläubischen Ängste dachte. Das Universum war nicht erfüllt von bösen Mächten. Menschen taten Böses, weil, wie Mrs. Locard gesagt hatte, ihr eigenes Unglück sie eine bittere Freude am Schmerz anderer empfinden ließ.
    Ich würde dem Rechtsanwalt meiner Frau schreiben, daß ich alles tun wolle, was in meiner Macht stand, um die Scheidung zu beschleunigen. Fickling hatte recht. Ich hatte es ihr nur zu leicht gemacht, mich zu betrügen. In diesem Augenblick begriff ich, was Mrs. Locard hatte andeuten wollen: Ein Teil der Schuld an dem, was geschehen war, traf mich selbst. Und doch war Schuld nicht das richtige Wort, denn ich fühlte mich nicht schuldig. Aber ich war nun in der Lage, die Verantwortung für das zu übernehmen, was ich getan oder versäumt hatte.
    Ich hatte auch noch einen zweiten Entschluß gefaßt, der mir erheblich leichter gefallen war. Das Geschäft, das Dr. Locard mir heute abend angeboten hatte, hatte mich in Versuchung gebracht. Dieser Umstand hatte, wenn schon sonst nichts, so doch eines bewirkt: daß ich mir eingestehen mußte, daß meine geringschätzige Haltung gegenüber weltlichem Erfolg nur auf Einbildung beruhte.
    In jener Nacht vor zweihundertvierzig Jahren hatte Burgoyne genau an der Stelle gestanden, an der ich jetzt stand, und vielleicht versucht, den Mut zu finden, sich hinunterzustürzen, als Gambrill leise hinter ihm die Treppe heraufgekommen war. Hatten sie noch miteinander gesprochen? Hatte

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