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Die schwarze Schatulle

Die schwarze Schatulle

Titel: Die schwarze Schatulle Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Batya Gur
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möglichen Orten aus dem Ausland. Jolis Großvater sagte, er heiße Hirsch, ohne Vornamen und ohne Herr, einfach Hirsch. Er schickte uns zum Händewaschen. Wir gingen durch ein großes Zimmer, an dessen Wänden viele eingerahmte Fotos hingen, Fotos von Hirsch mit allen möglichen Leuten. Er war nicht schwer zu erkennen, auch auf den Fotos nicht, wo er jünger war. Manche der anderen Leute trugen Uniform, andere nicht.
    Mitten im Zimmer stand ein Notenständer und daneben, auf einem Hocker, lag eine große, glänzende Trompete. Aber ihr Gold war an einigen Stellen schon abgeblättert. Das Zimmer war voller Küchengerüche, es duftete nach frischem Brot und Spagettisoße. Als wir zur Küche zurückkamen, war ich noch hungriger als zuvor. Von der Tür aus sah ich, wie Jolis Großvater riesige Mengen Spagetti aus dem Topf auf einen Teller hob, und oben auf diesen Hügel kippte er eine Soße aus Fleisch und Tomaten. Er stellte mir den Teller hin und als er zu den Töpfen zurückging, sagte er etwas auf Jiddisch. Joli übersetzte: »Er sagt, du sollst nicht warten, sondern anfangen.« Und er fügte in seinem seltsamen Hebräisch hinzu: »Iss nur, iss. Du dich nicht brauchst genieren. A young man must eat.« Das hieß: Ein junger Mann muss essen, ich verstand es auch allein.
    Eine Weile aßen wir schweigend, dann fragte mich Hirsch, wo ich wohnte und ob ich Geschwister hätte. Ich antwortete ihm und dann erkundigte er sich nach meinen Eltern und ob man bei uns zu Hause Jiddisch spreche. Und ich sagte, dass meine Mutter eine echte Sefardin war, im Land geboren. Mein Vater war als Baby aus Marokko nach Israel eingewandert. Deshalb würde bei uns auch keiner Jiddisch sprechen. »Jeder kann lernen, du auch«, sagte er. Und dann fügte er etwas auf Jiddisch hinzu und Joli übersetzte: »Er meint, das ist eine Sprache, die sich selbst nicht ernst nimmt und nicht glaubt, was sie sagt.«
    Ich verstand nicht, was das heißen sollte, und dachte schon, es würde sich überhaupt nicht lohnen, mit ihm über Benji zu sprechen, weil er so seltsam war. Für einen erwachsenen Menschen aß er auch seltsam. Er schmatzte geräuschvoll, wenn er sich die Spagetti in den Mund zog. (Meine Mutter hasst es, wenn ich so was mache!) Und er zerriss das selbst gebackene Knoblauchbrot mit den Händen. Auch den Kopfsalat aß er mit den Händen. Meine Mutter wäre verrückt geworden, wenn sie es gesehen hätte, und sogar ich dachte, ein erwachsener Mensch, noch dazu ein Großvater, solle sich eigentlich anders benehmen. Und wenn er es nicht tat, war das ein Zeichen, wie sonderbar er war. Bei so einem ist es nicht sicher, ob man sich auf ihn verlassen kann, dachte ich und warf Joli einen Blick von der Seite zu, aber sie tat, als wäre nichts. Für Nimrod genierte sie sich ein bisschen, aber nicht für ihren Großvater. Erst als sie den halben Teller verputzt hatte, ließ sie den Löffel sinken und sagte: »Opa, wir haben ein Problem und brauchen Hilfe.«
    Er hob den Kopf von den Spagetti und schaute Joli mit seinen blauen Augen an, in denen sich, wie eine kleine Wolke, ein Fragezeichen zu zeigen schien. Joli schaute mich an und fragte, ob ich es erzählen wolle.
    »In Ordnung«, sagte ich. »Aber auf Hebräisch.«
    »Natürlich auf Hebräisch«, bestätigte Joli. »Er versteht es ganz gut, er hat nur Hemmungen zu sprechen.«
    Also begann ich, ihm alles zu erzählen. Von Anfang an. Von Benji, den Lehrerinnen, seinem Zuhause, wie sich unsere Beziehung das ganze letzte Jahr entwickelt hatte, von der schwarzen Schatulle, die er mir zur Bar-Mizwa schenkte, von den letzten Tagen und besonders von gestern Abend und von dem Wort »traitor«. Ich ließ auch die Schrammen und blauen Flecken auf seinen Beinen nicht aus. Auch nicht den Zettel mit dem Totenkopf und dem blutigen Pfeil. Allerdings sagte ich nichts von diesem bestimmten Rot, denn inzwischen war ich mir schon fast sicher, dass ich es mir nur eingebildet hatte. Aber ich erwähnte das Mörderspiel. Als ich von dem Kloster erzählte, schaute mich Joli erstaunt an, davon hatte sie noch nichts gewusst. Ich sprach langsam, damit er mich verstand. Das heißt, ich wollte langsam sprechen, aber nach einer Minute fing ich schon an zu rattern, ich hatte einfach zu viel zu sagen. Außerdem hatte ich das Gefühl, dass er mich auch so verstand und mir wirklich zuhörte.
    Ich hatte gar nicht so viel erzählen wollen, aber er schaute mich die ganze Zeit an, ohne die Augen zu bewegen, und langsam senkte sich eine Art

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