Die schwarzen Juwelen 01 - Dunkelheit
Einst hatte Lucivar gesagt, dass er lieber seine Hoden verlöre als seine Flügel, und es war sein voller Ernst gewesen.
Oh, Lucivar, Lucivar, sein tapferer, arroganter, dummer
Bruder! Verzweifelt schüttelte Daemon den Kopf. Wenn er jenes Angebot angenommen hätte, würde sich Lucivar genau in diesem Augenblick in Askavi auf der Jagd befinden und auf der Suche nach Beute durch die Dämmerung gleiten. Doch sie hatten gewusst, dass es eines Tages dazu kommen würde. Das Klügste, was Lucivar jetzt tun konnte, war, dem Ganzen schnell ein Ende zu setzen, solange er noch bei Kräften war. Im Dunklen Reich würde er willkommen sein. Da war sich Daemon sicher.
Sie wird nicht ohne Strafe davonkommen, das verspreche ich dir. Egal, wie lange es dauert, die Sache richtig einzufädeln, ich werde dafür sorgen, dass sie für alles bezahlt.
»Lucivar«, flüsterte Daemon. »Lucivar.«
»Sie suchen alle nach dir.«
Er hatte nicht gehört, wie sie hereingekommen war, was nicht verwunderlich war. Ebenso wenig wunderte es ihn, dass sie überhaupt da war, obwohl er die Bibliothekstür abgesperrt hatte.
»Was ist mit ihm geschehen?«
»Mit wem?«, meinte Daemon, indem er versuchte, seine Trauer zu bezwingen.
»Mit Lucivar«, sagte Jaenelle mit stählerner Geduld.
Daemon erkannte jenes seltsame, beunruhigende Etwas in ihrem Gesicht und ihrer Stimme – Hexe konzentrierte sich. Einen Augenblick lang zögerte er, dann schloss er sie in die Arme. Wie oder wann die Tränen erneut zu strömen begannen, wusste er selbst nicht.
»Er ist mein Freund, mein Bruder«, flüsterte er an ihrer Schulter. »Er stirbt.«
»Daemon.« Jaenelle strich ihm zärtlich übers Haar. »Daemon, wir müssen ihm helfen. Ich könnte ...«
»Nein!« Führe mich nicht durch Hoffnung in Versuchung. Führe mich nicht in Versuchung, dieses Risiko einzugehen. »Du kannst ihm nicht helfen. Nichts kann ihm jetzt mehr helfen.«
Jaenelle versuchte, sich von Daemon abzustoßen, um
ihm ins Gesicht blicken zu können, doch er ließ es nicht zu. »Ich weiß, dass ich ihm versprochen habe, nicht mehr in Terreille umherzuwandern, aber ...«
Daemon wischte sich eine Träne fort. »Du bist ihm begegnet? Er hat dich einmal gesehen?«
»Einmal.« Sie hielt inne. »Daemon, vielleicht könnte ich ...«
» Nein! «, stöhnte Daemon an ihrem Hals. »Er würde nicht wollen, dass du dich dorthin begibst, und sollte dir etwas zustoßen, würde er es mir nie verzeihen. Nie.«
Hexe fragte: »Bist du dir sicher, Prinz?«
Der Kriegerprinz antwortete: »Ich bin mir sicher, Lady.«
Kurz darauf stimmte Jaenelle ein Trauerlied in der Alten Sprache an. Es war nicht die zornige Klage, die sie für Rose gesungen hatte, sondern ein sanftes Hexenlied, das von Liebe und Verlust handelte. Ihre Stimme wob sich durch sein Innerstes, bestätigte sein Leid und seinen Kummer und zapfte tiefe Brunnen an, die er ansonsten weiter verschlossen gehalten hätte.
Als ihre Stimme nach etlicher Zeit verklang, wischte Daemon sich die Tränen aus dem Gesicht. Blindlings ließ er sich von Jaenelle auf sein Zimmer führen, wo sie neben ihm stand und beaufsichtigte, wie er sich das Gesicht wusch, und ihn dazu brachte, ein Glas Brandy zu trinken. Sie sagte nichts. Es gab nichts, was sie hätte sagen müssen. Ihr großzügiges Schweigen und das Verständnis in ihren Augen waren genug.
Lucivar wäre stolz gewesen, ihr dienen zu dürfen, dachte Daemon, als er sich die Haare bürstete und sich bereitmachte, Alexandra und Philip entgegenzutreten. Er wäre stolz auf sie gewesen.
Zitternd atmete Daemon durch und begab sich auf die Suche nach Alexandra.
Alles hat seinen Preis.
Kapitel 12
1Terreille
D as Winsol-Fest kam rasch näher. Der höchste Feiertag der Blutleute fand statt, wenn die Wintertage am kürzesten waren, eine Feier der Dunkelheit, eine Feier von Hexe .
Daemon wandelte durch die leeren Korridore. Die Dienstboten hatten den halben Tag freibekommen und das Haus verlassen, um einkaufen zu gehen oder ihre Vorbereitungen für die Festlichkeiten zu beginnen. Alexandra, Leland und Philip waren ebenfalls unterwegs. Robert war wie gewöhnlich nicht zu Hause. Selbst Graff war ausgegangen und hatte die Mädchen in der Obhut der Köchin gelassen. Und er ... Nun, aus reiner Herzensgüte hatte man ihn nicht zurückgelassen. Vielmehr war er das letzte Mal, als er Alexandra auf ein Fest begleitet hatte, zu gereizt gewesen und hatte zu viele bissige Bemerkungen fallen lassen. Sie hatten die Veranstaltung eilig
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