Die schwarzen Juwelen 01 - Dunkelheit
und legte es in eine hölzerne Schatulle mit seltsamen Schnitzereien.
»Ein ungeschliffenes Juwel ist etwas sehr Seltenes, kleine Schwester«, meinte Titian, indem sie etwas aus der Holzschatulle nahm. »Warte, bis du weißt, wer du bist, bevor du es einfassen lässt. Dann wird es nicht bloß ein Gefäß für die Kräfte sein, die dein Körper nicht aushält, sondern ein Zeichen dessen, was du bist. In der Zwischenzeit«, sie streifte Surreal eine silberne Kette über den Kopf, »wird dir das hier helfen, deinen eigenen Pfad zu beschreiten. Einst gehörte es mir. Du bist kein Mondkind, Gold würde besser zu dir passen. Dennoch ist es ein erster Schritt auf einem langen Weg.«
Surreal betrachtete das grüne Juwel. Die silberne Fassung bestand aus zwei Hirschen, die sich um das Juwel wanden. Ihre Geweihe verzahnten sich nach oben hin und verdeckten den Ring, der die Kette zusammenhielt. Während sie das Schmuckstück musterte, sang das Blut in ihren Venen, ein leises Rufen, das sie nicht verstand.
Titian blickte sie an. »Wenn du je meinen Leuten begegnen solltest, werden sie dich an dem Juwel erkennen.«
»Warum können wir sie nicht besuchen gehen?«
Titian schüttelte den Kopf und wandte sich ab.
Das waren zwei gute Jahre in Surreals Leben gewesen. Tagsüber war sie bei ihren Lehrern und wurde von dem einen in der magischen Kunst unterwiesen, während der andere ihre Allgemeinbildung förderte. Des Nachts brachte Titian ihr andere Dinge bei. Selbst in ihrem zerbrochenen Zustand konnte sie ausgezeichnet mit dem Messer umgehen. Die Unruhe in ihrem Innern wuchs stetig, als warte Titian auf etwas, und je stärker dieses Gefühl wurde, desto unnachgiebiger wurde sie beim Training und den Übungen.
Eines Tages, als Surreal zwölf war, fand sie die Wohnungstür bei ihrer Rückkehr halb offen vor und Titian lag mit aufgeschlitzter Kehle im Vorderzimmer, ihr Dolch mit dem Horngriff neben ihr. Die Wände schienen vor Gewalt und Wut zu vibrieren ... und riefen ihr die Warnung zu: Lauf, lauf, lauf!
Surreal zögerte kurz, bevor sie in Titians Schlafzimmer stürzte, um die geschnitzte Schatulle mit ihrem Juwel zu holen. Während sie strauchelnd zurücklief, hob sie den Dolch vom Boden auf und ließ ihn und die Schatulle auf die Weise verschwinden, die man ihr beigebracht hatte. Dann rannte sie fort und ließ Titian, und wer immer hinter ihr her gewesen war, zurück.
Titian war gerade fünfundzwanzig geworden.
Kaum eine Woche nach dem Tod ihrer Mutter wurde Surreal zum ersten Mal überfallen. Während sie sich hoffnungslos zur Wehr setzte, sah sie sich einen langen, dunklen Tunnel hinabfallen, ihre Bahn in den Abgrund. Auf der Höhe von Grün schimmerte ein Netz, das über den Tunnel gespannt war. Unkontrolliert stürzte sie darauf zu. Der Schmerz, der ihr zugefügt wurde, indem man in sie eindrang, färbte die Wände rot. Surreal musste an Tersa denken, an Titian. Jeder Stoß trieb sie näher an ihr inneres
Netz. Wenn sie dorthin gelangte, während sie außer Kontrolle war, würde sie es zerreißen und als Schatten ihrer selbst in die Wirklichkeit zurückkehren, für immer um den Verlust der magischen Kunst trauernd sowie um das, was aus ihr hätte werden können.
Der Gedanke an Titian gab ihr die innere Kraft, sich zu wehren. Als die Stöße aufhörten ... als es endlich vorbei war ... war sie kaum eine Handbreit von ihrer inneren Zerstörung entfernt.
Erschöpft saß ihr Geist zusammengekauert da. Als der Mann fort war, zwang sie sich, wieder emporzusteigen. Die körperlichen Schmerzen waren schier unerträglich und die Laken von ihrem Blut durchtränkt, doch das Wichtigste war nicht zerstört worden. Sie trug immer noch die Juwelen. Sie war immer noch eine Hexe.
Innerhalb des nächsten Monats tötete sie zum ersten Mal.
Er war wie all die anderen, die sie mit auf ein schäbiges Zimmer nahmen und ihren Körper benutzten, um sie mit einer Kupfermünze zu bezahlen, mit der sie kaum genug Essen kaufen konnte, um durch den nächsten Tag zu taumeln. Ihr Hass auf die Männer, die sie und zuvor Titian missbraucht hatten, verwandelte sich in eisige Kälte. Als diesmal die Stöße heftiger wurden, als der Mann den Rücken durchbog und sich seine Brust vor ihr erhob, rief sie den Dolch mit dem Horngriff herbei und stieß ihm die Waffe mitten ins Herz. Seine Lebenskraft floss auf sie über, während er sein Lebensblut verlor.
Mit Hilfe der Kunst schob Surreal seinen schweren Körper von sich. Dieser hier würde sie nicht
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