Die schwarzen Juwelen 02 - Dämmerung
nicht?« Ihm fiel kein einziger Grund ein, weswegen sie Angst haben könnte, nach Hause zu gehen.
Die Worte sprudelten aus ihr hervor. »Ich weiß selbst, dass ich schlimm aussehe. Das ist mir klar. Deshalb kann ich jetzt auf keinen Fall nach Hause gehen. Wenn Papa mich sähe, würde er zornig werden und wissen wollen, was vorgefallen ist. Und das kann ich ihm nicht sagen, Lucivar. Ich kann nicht. Er wäre so wütend und würde sich wieder mit dem Dunklen Rat anlegen, und sie würden ihm bloß noch mehr Ärger machen.«
Lucivar fand nichts daran auszusetzen, wenn ihr Vater einen mörderischen Wutanfall darüber bekam, was man ihr angetan hatte. Unglücklicherweise teilte Jaenelle diese Sichtweise nicht. Sie ertrug lieber etwas, das sie von Grund auf zerstörte, als Unstimmigkeiten zwischen ihrem geliebten Papa und dem Dunklen Rat heraufzubeschwören. Diese Vorgehensweise mochte sie, den Dunklen Rat und ihren Papa zufrieden stellen, ihn jedoch nicht.
»Das reicht nicht, Katze«, versetzte er bewusst ruhig. »Entweder erzählst du mir, was passiert ist, oder ich liefere dich auf der Stelle bei deinem Vater ab.«
Jaenelle schniefte. »Du weißt ja gar nicht, wo er ist.«
»Ach, wenn ich genug Wirbel mache, wird mir bestimmt jemand verraten, wo der Kriegerprinz von Dhemlan zu finden ist.«
Jaenelle musterte sein Gesicht. »Du bist ein Mistkerl, Lucivar.«
Er setzte sein träges, arrogantes Lächeln auf. »Daraus habe ich nie ein Geheimnis gemacht.« Eine Zeit lang wartete er, da er wider besseren Wissens hoffte, sie nicht drängen zu müssen. »Was nun also, Katze?«
Sie wand sich, wofür er vollstes Verständnis hatte. Hätte jemand ihn so in die Ecke getrieben, wie er es mit ihr tat, würde er sich ebenfalls winden. Es entging ihm nicht, dass sie weniger körperliche Nähe wünschte, bevor sie weitersprach; doch er ging davon aus, dass es wahrscheinlicher war, so etwas wie die Wahrheit von ihr zu hören, wenn er Jaenelle weiterhin festhielt.
Schließlich gab sie auf und strich sich mit einem Seufzer durchs Haar. »Als ich zwölf war, ist mir etwas Schlimmes passiert …«
Hatte man ihr so die Vergewaltigung erklärt? Etwas Schlimmes, das ihr passiert war?
»… und Papa wurde mein gesetzlicher Vormund.« Das Atmen schien ihr schwer zu fallen, und ihre Stimme wurde so leise, dass er sich anstrengen musste, Jaenelle zu verstehen, obwohl sie ihm so nah war. »Erst zwei Jahre später erwachte ich – kehrte ich zu meinem Körper zurück. Ich … hatte mich verändert, als ich zurückkam, aber Papa half mir, mein Leben Stück für Stück wieder zusammenzusetzen. Er fand Lehrkräfte für mich und ermunterte meine alten Freunde, mich zu besuchen, und hatte Verständnis für mich.« Ihre Stimme bekam einen bitteren Unterton. »Doch der Dunkle Rat hielt Papa nicht für einen geeigneten Vormund, und sie versuchten mich von ihm und der restlichen Familie zu trennen, also habe ich sie aufgehalten, und sie mussten mich bei Papa bleiben lassen.«
Aufgehalten . Lucivar überlegte, wie sie den Rat hatte aufhalten können. Offensichtlich war sie dabei nicht gründlich genug vorgegangen.
»Um den Rat zu besänftigen, willigte ich ein, in regelmäßigen Abständen eine Woche bei den Adelsfamilien in Kleinterreille zu verbringen.«
»Was noch lange nicht erklärt, weshalb du in diesem Zustand zurückkommst«, sagte Lucivar leise. Er massierte ihre Arme, um sie zu wärmen. Während er schwitzte, zitterte sie immer noch.
»Es ist, als sei ich wieder in Terreille«, flüsterte sie. In ihre Augen trat ein gehetzter Blick. »Nein, schlimmer. Es ist, als sei ich in …«
»Selbst Adelige in Kleinterreille müssen etwas essen«, meinte er sanft.
Ihre Augen wurden glasig. »Kann dem Essen nicht trauen«, erwiderte sie mit dumpfer Stimme. »Niemals dem Essen trauen. Selbst wenn du es untersuchst, kann man das Böse nicht
immer spüren, bis es zu spät ist. Kann nicht schlafen. Darf nicht schlafen. Aber sie kriegen dich trotzdem. Lügen sind die Wahrheit, und die Wahrheit wird bestraft. Böses Mädchen. Krankes Mädchen, sich solche schmutzigen Lügen auszudenken. «
Eine eisige Faust legte sich um Lucivars Herz, und er fragte sich, welche Alpträume sie in diesem Augenblick erlebte.
Er zwang sie, ihn anzusehen, indem er sie am Kinn hielt und ihren Kopf zu sich drehte. »Du bist kein böses Mädchen, du bist nicht krank und du erzählst keine Lügen«, erklärte er mit fester Stimme.
Sie blinzelte. Verwirrt sah sie ihn an.
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