Die schwarzen Raender der Glut
Irgendetwas späht durch den Verschlag.
»Wohin willst du?« Besorgt stellt sich Hannah vor die Tür des Wohnzimmers. Tamar steckt in Jeans und in einer Lederjacke, die weit genug herunterhängt, um das Pistolenhalfter mit der P 9 zu verdecken.
»Ich muss nach dem Alten Mann sehen«, antwortet sie. »Ich habe seinen Auftrag nicht erledigen können. Also muss ich sehen, was ich sonst tun kann.«
»Das ist Quatsch. Du weißt doch gar nicht, wo und was.«
»Doch. Er wollte auf die Alb. Nach Wieshülen, denke ich.«
»Wer soll da sein? Die Bösen, wie?« Hannah stellt sich zwischen die Türpfosten. »Und Tamar-with-the-gun kommt und rettet die Guten? Hast du sie noch alle?«
In Tamars Lederjacke quäkt das Handy. Tamar meldet sich. Niemand antwortet.
Tamar runzelt die Stirn. Undeutlich hört sie eine Stimme.
»Keine Bewegung, hab ich gesagt . . . , drehen Sie sich langsam um . . ., nehmen Sie die Hand aus der Tasche, aber langsam, dass ich sehen kann . . ., jetzt beide Hände hoch . . ., stellen Sie sich vor den Verschlag, mit dem Rücken zu mir, und lassen Sie die Hände oben, stützen Sie sich am Verschlag ab . . . Was haben Sie in der rechten Hosentasche?«
Eine zweite Stimme antwortet. »Nur mein Handy . . .«
Die Verbindung bricht ab. Tamar wartet noch einen Augenblick, dann steckt sie ihr Handy ein. »Lass mich vorbei.«
»Nur wenn du mich mitnimmst.«
»Kommt nicht in Frage. Ich mal dir auch nicht in deinen Bildern rum.«
Es wär ein bisschen blöd, guten Tag zu sagen, denkt Grassl. Wozu überhaupt reden? Er hat sich den Gürtel ausgezogen und steht jetzt auf seiner Koje. Wieso ist da überhaupt eine Koje? Für den Stallknecht vielleicht, einstmals, als hier Kühe kalbten. Er tastet im Halbdämmer nach oben. Von dem Außenpfosten der Koje führt eine Querlatte zum Lattenverschlag an der Seite. Er versucht, das eine Ende seines Gürtels über die Querlatte zu werfen.
»So schaffen Sie es nicht«, sagt der Mann, der vorhin gekommen war und den sie in den Verschlag nebenan gesperrt haben. »Sie renken sich höchstens das Kinn aus, soll ziemlich schmerzhaft sein.«
»Sehr aufmerksam«, sagt Grassl. »Aber wissen Sie denn überhaupt, was Sie hier erwartet?«
»Das weiß man nie«, antwortet der Mann. »Das ist wie mit dem Herrn, der unter die Falschmünzer gefallen ist. Der steckte auch im Loch, so wie wir. Am Ende bekam er eine schöne goldene Uhr, für die ihm später ein Regierungsdirektor 75 nagelneue Euro bot. Können Sie alles bei Johann Peter Hebel nachlesen. Der Herr hat die Uhr übrigens behalten. Er hatte wohl seine Zweifel, was die Euro des Regierungsdirektors betraf. Ich vermute, Sie sind der Herr Grassl?«
Ein Verrückter, kein Zweifel. Trotzdem entschließt sich Grassl, von der Koje herunterzusteigen. »Nett, dass jemand meinen Namen kennt, solange ich einen habe. Und mit wem hätte nun ich die Ehre?«
»Berndorf«, sagt der Mann. »Kriminalbeamter außer Dienst.«
»Das sehe ich«, antwortet Grassl und lässt sich auf die Koje
nieder. In dem anderen Verschlag nimmt Berndorf einen leeren Eimer, dreht ihn um und setzt sich darauf.
»Sie hören sich etwas besser an«, sagt er dann. »Sie könnten mir jetzt eigentlich erzählen, was Schatte von Ihnen will . . .«
Grassl überlegt. Es kommt nicht mehr darauf an. Ich kann es ihm ebenso gut erzählen wie jedem anderen. »Es geht um Zundts Geldgeber . . .«
In diesem Augenblick öffnet sich die Stalltür. Im einfallenden Licht steht Dülle, ein Schnellfeuergewehr unter dem Arm. Dülle ist der Mann, der Berndorf aufgespürt hat. Er greift sich den Schlüsselbund, der an einem Haken neben der Tür hängt, und geht damit zu dem Verschlag, in dem Berndorf sitzt.
»Der Prof will Sie sprechen. Sie gehen mir voraus, die Hände im Nacken gefaltet.« Dann schließt er auf.
Sie gehen über den gekiesten Hof, an den Kastanien vorbei. Am Eingang zur Akademie lehnt Shortie, einen großkalibrigen Revolver im Gürtelhalfter. Beim Vorbeigehen sieht Berndorf ihm in die Augen. Shortie blickt weg.
Durch die Halle, vorbei an dem mit einem Trauerflor geschmückten Bild Zundts, gehen sie nach oben, auf ein Zimmer zu, dessen Tür nur angelehnt ist. Berndorf stößt sie auf und tritt ein.
»Entschuldigen Sie freundlichst, dass ich Sie habe warten lassen, mein Bester!«, sagt der Mann, der hinter einem schweren, ausladenden Schreibtisch aus Eichenholz sitzt. Es ist Ernst Moritz Schatte.
Auf dem Schreibtisch stehen eine Lampe mit Bronzefuß und eine
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