Die schwarzen Raender der Glut
Innenstadt an. In der Nacht zum 24. Juni 1972 war ich außer der Reihe zum Spätdienst eingeteilt, weil wegen eines am 23. Juni stattgefundenen Raubüberfalls zum Nachteil der Landeszentralbank Mannheim erhöhte Einsatzbereitschaft angeordnet war.
Am 24. Juni gegen 3.10 Uhr ging bei der Zentrale der Polizeidirektion ein Anruf ein, wonach sich einer der gesuchten Täter in einer Wohnung in Mannheim-Feudenheim, Carlo-Mierendorff-Straße 34, aufhalte. Entgegen der über Rundfunk verbreiteten Fahndungsaufrufe sei dieser Täter keine Frau, sondern ein Mann mit langen Haaren. Der Tatverdächtige sei bewaffnet.
Von dem Dienst habenden Schichtführer in der Direktion, Kriminalkommissar Berndorf, wurde ich daraufhin zu der Einsatzgruppe eingeteilt, die den genannten Tatverdächtigen überprüfen und gegebenenfalls festnehmen sollte. Vor dem Einsatz wurden Schusswesten und Maschinenpistolen ausgegeben. Kommissar Berndorf belehrte mich, dass der Tatverdächtige möglicherweise bewaffnet sei. Ausdrücklich erklärte der Einsatzführer, Schusswaffengebrauch sei nur zur Gefahrenabwehr zulässig.
Gegen 3.50 Uhr hatte die Einsatzgruppe das o. g. Anwesen erreicht und umstellt. Die Haustüre wurde mit dem dafür vorgesehenen technischen Gerät geöffnet. Gemeinsam mit zwei weiteren Beamten, die die Sicherung übernahmen, stiegen Kommissar Berndorf und ich in das dritte Stockwerk zu der uns genannten Wohnung. Kommissar Berndorf läutete mehrmals.
Nach dem o. a. mehrmaligen Läuten wurde die Tür von einer unbekleideten männlichen Person geöffnet. Die Person hatte gewelltes, kurz geschnittenes rötliches Haar. Als sie mich erblickte, stieß sie die Tür wieder zu.
Obwohl ich erkannt hatte, dass die fragliche Person unbekleidet und unbewaffnet war und nicht der Täterbeschreibung entsprach, eröffnete ich das Feuer. Die genannte Person wurde dabei durch die Türe von mehreren Kugeln in Oberkörper und Bauch getroffen und verblutete noch am Tatort.
Dies stellt ein Verbrechen der vorsätzlichen Tötung dar, wobei ich mir die Wehrlosigkeit des Opfers zu Nutze gemacht habe, welches nach § 211 StGB wegen Mordes zu bestrafen ist.
Hochachtungsvoll
Wilhelm Troppau
Berndorf faltet die beiden Blätter zusammen und steckt sie zu den anderen. Troppau, Wilhelm. Bauernkind aus dem Warthegau. Mit der Mutter und den letzten beiden Pferden durch den polnischen Winter. Breitflächiges, verschlossenes Gesicht. Augen, die einen unsicher streifen. Ob er auch richtig verstanden hat. Nicht, dass es ironisch gemeint war.
Nach dem Dienst kein Schnaps. Und keine Späße. Schon gar nicht über Frauen. Einmal, in der Nachtschicht, hat er Berndorf von der Flucht durch den polnischen Winter erzählt. Wie das war, als die Stute hinfiel und nicht mehr aufstand. Wie der Iwan den Treck überrollt hat, und was mit den Frauen war. Das Schweigen danach.
Ein abweisender Blick streift an ihm vorbei. Die Brünette, deren Ambiente er stört. Berndorf zuckt mit den Schultern. Dann greift er nach dem Zettel in seiner Brusttasche, auf dem die beiden Telefonnummern notiert sind, die er sich in der Hauptpost herausgesucht hat, vorhin, nach dem Gespräch mit Sielaff.
Aber von hier aus geht es nicht. Ich muss ins Hotel zurück.
Grassl ist in die Cafeteria gegangen, hat sich an einen Tisch in die Nähe des Büfetts gesetzt und einen Kaffee bestellt. Die Bedienung ist eine gelangweilte junge Frau mit gepiercten Lippen, Grassl wäre gerne ins Gespräch mit ihr gekommen, um sie auf sich aufmerksam zu machen.
Aber das ist schon immer sein Problem. Er weiß nicht, wie er eine Frau ansprechen soll.
Und dann ist es auch schon zu spät. Zwei Männer betreten die Cafeteria und sehen suchend um sich. Sie sind Mitte zwanzig, beide breitschultrig, und haben beide einen auffällig kurzen Haarschnitt. Sie tragen Jeans, die unten aufgerollt sind, und kräftige schwarze Lederstiefel.
Sie erblicken Grassl und kommen auf seinen Tisch zu.
»Das ist er ja«, sagt der Größere der beiden und lächelt. Das Lächeln verzieht das feuerrote Mal auf seiner Wange. »Fast hätten wir unseren Freund verloren. Wär zu dumm gewesen.«
Er greift sich den Stuhl neben Grassl und setzt sich ungefragt. Der zweite Mann nimmt den Stuhl auf der anderen Seite.
Grassl blickt zu den großen Kajütfenstern hinaus. Der See schimmert wie aus unzähligen blau gefassten Spiegeln.
»Aber nun haben wir uns ja wieder gefunden.« Unwillkürlich streift Grassls Blick über das Gesicht mit dem Feuermal.
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