Die schwarzen Wasser von San Marco
wiederholte seine Worte.
»Was sagt er?«
»Er hat das Bestechungsgeschenk noch, das Ursinos Freunde ihm und Ventrecuoio überreichten. Ventrecuoio hat es ihm anvertraut, um es zu Geld zu machen, aber Fratellino konnte sich nicht davon trennen, und nach Ventrecuoios Tod wagte er sich nicht mehr aus seinem Versteck.«
»Was ist es?«
Fratellino huschte zu seinem Lager hinüber, grub etwas aus der tiefsten Lage Schmutz und Filz hervor und brachte es zu Calendar und mir herüber: Es war etwas Längliches, in einen schmutzigen Lappen eingerollt. Calendar nahm es an sich und wickelte es aus.
»So was habe ich schon mal gesehen«, sagte ich. »Nur war es da neuer.«
Wir beide starrten auf ein Messer, dessen Klinge vom vielen Schleifen dünn geworden war wie das Messer eines Schlachters. Vermutlich war es kaum weniger scharf. Der Griff war mit Lederbändern umwickelt; der Knauf ein knolliges, gelblich braunes und unregelmäßiges Gebilde: ein Stück Oberarmknochen, von der Stelle, wo der Oberarm in der Gelenkpfanne der Schulter ruht. Es bestand kein Zweifel, dass der Knochen menschlichen Ursprungs war.
Ein beunruhigendes Lächeln huschte über Calendars Gesicht, während er das Messer wieder einwickelte. Dann kramte er in seiner Börse und gab Fratellino eine Hand voll Münzen für das Messer, ohne sie abzuzählen. Fratellinos Gesicht hellte sich überrascht auf.
»Und ich«, sagte Calendar, »habe in meinen Jahren als Staatsanwalt bestimmt ein halbes Dutzend Leichen gesehen, deren Körper Einstiche aufwiesen, in die diese Klinge gepasst hätte. Sie sind es, die Fulvio zu dem Beinamen ›der Meuchelmörder‹ verholfen haben.«
Er erhob sich und klopfte dem Jungen auf die Schultern. Fratellino ließ sich beim Sortieren der Münzen nicht stören. »Der Kleine soll sich weiterhin hier verstecken, bis die Geschichte vorbei ist«, knurrte er.
»Und was tun wir?«
»Wir« , sagte er gedehnt, »gehen Barberro einen Besuch abstatten und erkundigen uns, ob nicht er es war, der in einer gewissen Nacht im Bug einer batèla saß und darauf wartete, dass sein Leutnant Fulvio einen halbwüchsigen Knaben ertränkte und die Leiche im Arsenal verschwinden ließ. Und ob er nicht die Freundlichkeit besäße, uns einige der Fragen zu beantworten, die wir uns bisher vergeblich gestellt haben.«
Ich nickte. Ich erwähnte nicht, dass es noch jemanden gab, dem zumindest ich einen Besuch schuldig war.
Enrico Dandolo hatte einen toten Jungen gesehen und in seinem Schrecken angenommen, es handle sich um seinen Neffen.
Andrea Dandolo hatte ebenfalls einen toten Jungen gesehen und ihn als den verschwundenen Pegno identifiziert. Und ich konnte mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass er einer Sinnestäuschung erlegen war oder nicht wenigstens einen Fleck am Körper seines älteren Bruders kannte, der den Leichnam als den seinen auswies. Mit anderen Worten: Ich glaubte, Andrea hatte gelogen.
Als wir aus dem Ruinenfeld des Elendsviertels zu der breiten Gasse hinüberschritten, die zur Riva dei Sette Martiri führte, sah ich weit entfernt Masten über die niedrigen Häuser ragen. Ein großes Schiff bewegte sich vorsichtig in den Canal di Castello hinein. Vielleicht brachte es Vorräte für den Bischof in seinem unfreiwilligen Exil, vielleicht einen Boten aus dem Vatikan, dem er seine Empörung über die fortdauernde Ignoranz der venezianischen Republik schildern konnte. Hinter den Masten lag die weite Fläche des nördlichen Teils der Lagune. Ich fragte mich, ob irgendwo dort auf dem schlickigen Grund eine Jungenleiche lag, die man tatsächlich dem alles verbergenden Wasser übergeben hatte.
»Halten Sie es für klug, ohne Verstärkung zu Barberro zu gehen?«, fragte ich Calendar wenig später. »Der Mann hegt weder für Sie noch für mich besondere Sympathie, und was wir ihm vorwerfen wollen, wird seine Liebe nicht gerade steigern.«
»Wer sagt, dass ich das vorhabe?«
»Wollen Sie erst ein Kontingent Wachen aus dem Dogenpalast holen?«
Calendar bog vor der hölzernen Zugbrücke, die über den Rio dell’Arsenale führte, nach rechts ab. »Ich nutze einen der Vorteile, die man als Polizist in dieser Stadt genießt«, erklärte er. Er führte mich bis zu den Türmen, die die Einfahrt in das Arsenal überwachten, und begann eine kurze Diskussion mit den Wachmännern, die auf dem Verbindungssteg zwischen den Türmen hoch über dem Wasser des Kanals standen. Einer von ihnen verschwand kurz und holte seinen Offizier, und dieser kam
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