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Die schwarzen Wasser von San Marco

Die schwarzen Wasser von San Marco

Titel: Die schwarzen Wasser von San Marco Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Dübell
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Der Wächter sah erstaunt auf den stumpfen Fleck, den die Ratten zurückgelassen hatten. Calendar schritt an ihm vorbei und nahm die Stelle genauer in Augenschein. Ich trat neben ihn. Calendar stippte mit der Fußspitze gegen den dunkelbraunen Fleck.
    »Ich glaube nicht, dass hier eine Ratte verblutet ist«, sagte er rau. Er spähte unter den Heckaufbau hinein. Das Licht hier draußen auf Deck war zu gleißend. Vor meinen Augen tanzten nur helle Punkte, als ich versuchte, mehr als eine schwarze Höhle zu erkennen.
    Calendar zog den Kopf ein und trat unter die niedrige Brüstung, die sich zwischen dem Heckaufbau und dem Deck befand. Ich folgte ihm in die Dunkelheit hinein. Einmal drin, gewöhnten sich meine Augen rasch an die Dämmrigkeit. Ich sah eine Holzwand, die den hinteren Teil des Schiffs abtrennte: Barberros Kabine. Davor lagen, geschützt vor der Witterung durch das niedrige Dach des Deckaufbaus, zusammengerollte Taue, weitere gefüllte Säcke und – zusammengebunden wie gefesselte Verbrecher – drei Fässer. Eine weitere Bodenluke schien zu den Quartieren der restlichen Mannschaft im Schiffsbauch zu führen. Es roch schwach nach Pökelfleisch und nach feucht gewordenem Getreide. Wir schlichen zu den Fässern hinüber. Bei allen dreien waren die Deckel eingeschlagen worden. Calendar beugte sich über eines, das den Fleischgeruch ausströmte, und prallte zurück. Ich wusste, warum, denn ich bekam in dem Fass, in das ich hineinspähte, etwas Ähnliches zu sehen – ein Rudel von Ratten, das sich an dem dargebotenen Inhalt gütlich tat und raschelnd herumfuhr, als sie meiner ansichtig wurden. Ich sprang zurück; die Ratten strömten hastig aus den Fässern heraus und verschwanden im Dunkel des hinteren Deckbereichs, ein blitzschneller, grauer Strom aus Pelz, der sich über die bauchigen Formen und zwischen unsere Füße ergoss und davongehuscht war, noch bevor wir weiter zurückweichen konnten. Aus dem dritten Fass flohen keine Ratten. Es war ein Wasserfass, zur Hälfte gefüllt. Die fehlende Hälfte hatte jemand in das Getreidefass gegossen, in das ich hineingesehen hatte, und den Inhalt ruiniert. Es war nicht so, dass die Ratten sich nicht auch für Süßwasser interessiert hätten – nur, die Ratten im Wasserfass trieben als nasse Klumpen auf der schattigen Oberfläche und waren tot.
    »Das dauert eine Weile, bis eine Ratte in einem Wasserfass ersäuft«, sagte ich.
    »Das Fass mit dem Pökelfleisch enthält auch tote Ratten«, knurrte Calendar. »Jemand hat sie erschlagen und hineingeworfen, um das Fleisch und den Rest des Wassers ungenießbar zu machen.«
    Wir wandten uns von den Fässern ab. Was wir von Barberros Schiff noch nicht gesehen hatten, lag hinter der Tür zu seiner Kabine. Wir tauschten einen Blick. Calendar winkte zwei der Wachen zu uns herein und befahl den anderen, draußen Posten zu beziehen. Die Männer gaben uns ihre Spieße, stellten sich vor der Tür auf, verschränkten die Arme, dann hob jeder einen Fuß, um gemeinsam die Kabinentür einzutreten. Sie flog krachend auf, schmetterte gegen die Seitenwand und prallte mit einem ebenso lauten Knall zurück. Sie war nicht abgeschlossen gewesen. Nach dem Tritt hing sie schief in den Angeln. Wir hörten das Rascheln und Quieken, mit dem erschrockene Ratten in ihre Verstecke flüchteten.
    Calendar und ich gaben die Spieße zurück. Die Wachen drückten die Tür mit den Spitzen der Spieße wieder auf und traten vorsichtig ein. Wir folgten ihnen auf dem Fuß. In Barberros Kabine war es so düster wie überall unter dem Deckaufbau. Die kleinen Fenster, durch die ich ihn und Calendar zwei Nächte zuvor hatte streiten hören, waren mit Läden verschlossen. Lediglich durch die Ritzen sickerten ein paar Sonnenstrahlen herein, dünne Lanzen aus Licht, in denen Staubpartikel wirbelten und funkelten. Was immer wir erwartet hatten, die Wirklichkeit übertraf es bei weitem.
    Der Geruch war gemein, wie im Hinterhof eines Schlachters, wo die Eingeweide zu lange in der Sonne gelegen haben. Die beiden Bewaffneten vor uns drehten sich um und sahen auf eine Stelle an der Wand rechts neben der Tür. Ihre Augen weiteten sich. Sie stolperten zurück und bekreuzigten sich beinahe gleichzeitig.

7
    Fulvio Sicarius hatte mindestens ein halbes Dutzend Menschen auf dem Gewissen und vor kurzem einen wehrlosen Jungen in einem hüfttiefen Kanal ertränkt. Als ich ihn vor mir an der Wand von Barberros Kabine hängen sah, konnte ich jedoch keine Befriedigung über sein

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