Die schwarzen Wasser von San Marco
seinem Gesicht verschwunden wäre, und ich kam bis in die Schankstube, bis mir aufging, dass ich jedes seiner Worte verstanden hatte: »Sie sehen aus, als hätten Sie sich mächtig verirrt.«
Ich machte auf dem Absatz kehrt und trat wieder nach draußen, wo er an der Hausmauer lehnte wie zuvor. Er war ein baumlanger Kerl mit einem verwegenen, ebenmäßigen Gesicht, kurz geschorenen Haaren und Augen, die ebenso blitzten wie seine Zähne. Er sah auf mich herab, als wäre nichts Außergewöhnliches geschehen.
»Du alter Fuchs«, sagte ich. »Du beherrschst unsere Sprache wie nur irgendeiner.«
Moro riss die Augen auf und deutete in einer vollkommenen »Wer, ich?!«-Geste auf sich. Dann wurde sein Grinsen noch breiter. »Ich bin schon im Besitz von Messèr Manfridus, seit Meister Marco so groß war. Genug Zeit, ihm aufs Maul zu schauen.« Er sprach sogar mit einem Anflug des Dialektes, der nur dann aus Manfridus’ Worten hervorschimmerte, wenn er außer Fassung geriet.
»Du sprichst vollkommen fehlerlos. Das lernt man nicht in ein paar Jahren.«
»Meine Zunge ist klug«, erklärte er ohne den geringsten Anflug von Spott. Dann fuhr er in für meine Ohren ebenso fehlerlosem Latein fort: »Ich muss eine fremde Sprache nicht lange hören, um sie zu beherrschen. Gott hat auch im geringsten Sklaven einen Edelstein verborgen.«
Ich schüttelte überrascht den Kopf.
»Was wollen Sie noch hören? Byzantinisch? Persisch? Ich kann Aristoteles im griechischen Original zitieren.«
Aus einem plötzlichen Impuls heraus sagte ich: »Komm mit mir in die Schankstube, ich lade dich auf einen Becher Wein ein.«
Moro rollte mit den Augen und leckte sich über die Lippen und tat wie der hohlköpfige Sklave, als den ich ihn bis eben eingeschätzt hatte. Dann sagte er ruhig: »Lassen Sie mich das Fass aussuchen, dann können Sie sicher sein, dass es ein guter Wein ist.«
Der Wein war tatsächlich zu gut für die tönernen Becher, er hätte auch einem Glas aus Kristall alle Ehre gemacht. Moro nickte zufrieden, ließ sich den ersten Schluck auf der Zunge zergehen und warf dann dem Krug einen Blick zu, als wollte er sich vergewissern, dass er noch ausreichend gefüllt war. »Kommt aus den Bergen oberhalb Veronas«, erklärte er. »Die ganze Gegend gehört Venedig.« Er hatte einen kleinen, nachlässig gebundenen Kodex mitgebracht, in dem er jetzt eine Seite aufschlug und mit einem zugespitzten Kohlegriffel etwas notierte. Ich beobachtete ihn dabei.
»Ich schreibe den Wein auf Ihren Namen«, sagte er ruhig. »Die Einladung gilt doch noch?«
»Du kannst auch schreiben?«
»Nicht so gut wie sprechen«, erwiderte er und klappte das Büchlein zu. »Aber es reicht, um die Schulden der Gäste aufzuschreiben.« Er zwinkerte mir zu und trank.
»Marco hat mir erzählt, demnächst würde der Vorsitzende des Zehnerrats neu gewählt werden. Was bedeutet das für die Stadt?«
»Keine große Änderung zu vorher. Die Regeln, nach denen der Rat arbeitet, sind schon sehr alt. Sollte sich an ihrem Inhalt oder ihrer Auslegung etwas ändern, würde das so schleppend geschehen, dass es nicht von einem Vorsitzenden auf den nächsten spürbar würde.«
»Dann sollte ich wohl besser fragen: Was bedeutet das für den Mann, der zum Vorsitzenden gewählt wird?«
Moro grinste. »Ja, das wäre die passendere Frage.«
»Ein Mann namens Leonardo Falier kandidiert offenbar für den Posten.«
»Falier möchte hoch hinaus. Warum interessieren Sie sich dafür?«
»Vielleicht, weil ich mir auf Schritt und Tritt die Nase an seinem Familienwappen platt drücke.«
»Für manchen Geschmack übertreibt er ein wenig«, lachte Moro. »Die Wahl findet auch nicht durch das Volk statt, sondern durch verschiedene einander ablösende Gremien von Wahlmännern, um Korruption so weit wie möglich auszuschalten. Natürlich beeinflusst es die Wahlmänner, wenn der künftige Vorsitzende die Herzen des Volkes in der Hand hält; umso leichter tut sich der Rat bei seiner Arbeit.«
»Ist der Posten des Vorsitzenden lukrativ?«
»Ungefähr so wie der des Dogen. Wenn man es hinter sich hat, ist man pleite.«
»Was verspricht ein Mann wie Falier sich dann davon?«
»Manche Menschen sind dazu geboren, die anderen zu führen, und sie verfolgen ihre Bestimmung mit aller Macht.«
»Und manche sind dazu geboren, alles über alle zu wissen«, lächelte ich.
»Ja«, sagte Moro und nickte leicht, »die gibt es auch.«
»Wie kommt ein Mann wie du als Sklave in die Herberge Michael
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