Die schwarzen Wasser von San Marco
schwach war, dass er sogar in einer Pfütze ertrunken wäre.«
»Fieber?«
Moro schüttelte den Kopf. »Seekrankheit, nichts weiter. Nur, dass Pegno schon im Hafen krank wurde. Es sind nicht alle Menschen gleich robust.«
»Eine herbe Enttäuschung für den Vater.«
»Messèr Fabio war außer sich. Ich denke, er war noch immer wütend, als er abreiste. Man kann nur hoffen, dass Pegno nicht so ganz bei Bewusstsein war, als er an Land gebracht wurde – was sein Vater ihm hinterherbrüllte, ließ sogar die Ruderer erröten.«
Ich schnaubte. Moro schüttelte abermals den Kopf. »Ich dachte, Messèr Enrico hätte es Ihnen erzählt und dass Sie ihn deshalb nochmals aufsuchen wollten, als Sie sich verirrten.« Er dachte einen Augenblick nach. »Warum haben Sie eigentlich niemanden nach dem Weg gefragt?«
»Was glaubst du, was ich getan habe? Der Kerl schickte mich in alle Richtungen zugleich.«
Moro begann plötzlich lauthals zu lachen. »Sie müssen zwei Dinge beherzigen: die Art und Weise, wie diese Stadt entstanden ist – und den Umstand, dass sich hier jeder schon mal verirrt hat.«
»Das eine soll mir einen Schlüssel an die Hand geben, mich zurechtzufinden – und das andere mich trösten, falls ich trotzdem noch mal den Weg verlieren sollte.«
Moro legte die Hände vor sich auf den Tisch. »Venedig«, sagte er freundlich und hob seine Arme langsam in die Höhe, als würde unter seinen langen, schlanken Fingern aus dem Nichts eine Stadt entstehen, »ist aus dem Wasser und in den Himmel gewachsen. Was heute wie eine einzige Stadt aussieht, ist in Wahrheit eine Vielzahl von Inseln, die durch enge Kanäle voneinander getrennt sind. Als die ersten Menschen hierher kamen, ruderten sie durch die Kanäle, erklommen die Inseln und errichteten darauf die Punkte, um die sich ihr Leben gründete: ihre Kirche und ihre Häuser.«
Ich nickte. »So viele Inseln – so viele Gemeinden.«
»So ist es. Betrachten Sie Venedig als eine Unmenge kleinster Dorfgemeinschaften, die durch die Umstände zu einem einzigen großen Ganzen zusammengefügt wurden. Die Menschen bauten ihre Kirche, gruppierten ihre Häuser darum herum, benannten den freien Platz in ihrer Mitte nach dem Heiligen, dem die Kirche geweiht war, gruben im Zentrum des Platzes eine Zisterne und füllten das Ganze mit Glauben, Leben und Handel.«
»Das zu wissen hilft mir, mich in der Stadt zu orientieren?«
»Es ist die kleinste Einheit Venedigs, das Mosaiksteinchen, aus dem sich das komplette Bild zusammensetzt: Der campo , der Platz, mit seinem Brunnen, dem pozzo , die Kirche, die den campo überblickt, und die Häuser, die sie hier ca’ nennen, mit ihren Wohnungen im ersten und den botteghe im Erdgeschoss. Umschlossen ist diese Einheit von einem Wasserweg, einem engen rio oder einem der drei weiten canali , der gleichzeitig die Gemeindegrenze darstellt. Venedig hat über hundert solche campi , fast jeder ist nach einem Heiligen benannt, und alle sind gleichmäßig über die Stadt verstreut.«
»So ist es der campo , der zählt, und nicht die Gasse, die dorthin führt.«
»Wer etwas auf sich hält, bewegt sich per Boot auf den canali oder den rii . Ihnen ist bestimmt schon aufgefallen, dass die Häuser der Adligen und der Reichen ihren Eingang alle am Wasser haben. Für die Händler, Träger und die anderen Niederstehenden wurden die Verbindungen gemacht, die man zu Fuß benutzen kann: die calli , die die campi auf dem Landweg miteinander verbinden. Das sind keine Gassen, wie man sie aus anderen Städten kennt; das sind Notlösungen, und ihre Logik reicht nur vom Ausgangs- bis zum Endpunkt. Sie fügen sich nicht in ein Verkehrsnetz ein – das Verkehrsnetz hier ist das Wasser.«
»Und deshalb …«
»Und deshalb kann Ihnen, wenn Sie sich an den calli orientieren, Folgendes passieren: Sie landen vor einer Mauer, sie landen vor einem geschlossenen Tor, sie landen am Wasser, ohne dass eine Brücke darüber führt. Wenn Sie Glück haben, landen Sie auf dem nächsten campo , aber darauf würde ich mich nicht verlassen. Abgesehen davon ändern sich die Namen der calli alle paar hundert Schritte, und die meisten Einwohner kennen sie ohnehin nicht.«
»Welchen Rat gibst du mir nun?«
»Ganz einfach. Bewegen Sie sich nicht auf den calli , sondern zwischen den campi . Versuchen Sie sich einzuprägen, welche campi zwischen Ihrem Ausgangs- und Ihrem Zielpunkt liegen, und marschieren Sie einen nach dem anderen ab.«
»Und woher soll ich die Namen der
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