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Die schwarzen Wasser von San Marco

Die schwarzen Wasser von San Marco

Titel: Die schwarzen Wasser von San Marco Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Dübell
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Wohnräume des Hausherrn. Ich sah mich um und entdeckte auf dieser Seite des Saals zwei weitere Türen. Der Bote verschwand mit einem Kopfnicken in einer der drei Türen gegenüber und schloss sie sofort wieder hinter sich.
    Ich lauschte angespannt; in Enrico Dandolos Haus war es so still, als lägen die Bewohner noch in tiefem Schlaf oder hätten es verlassen. Entfernt klang ein Topfscheppern an mein Ohr und noch entfernter das unzufriedene Nörgeln eines kleinen Mädchens. Es konnte ebenso gut aus einem anderen Haus stammen. Die Tür öffnete sich wieder, und der Bote winkte mich herein. Ich trat über die Schwelle und wusste sofort, wer der Frühaufsteher in diesem Haus war.
    Er konnte höchstens zwölf Jahre alt sein, aber die betont überlegene Miene ließ ihn älter erscheinen. Unwillkürlich fragte ich mich, welche Ähnlichkeit Pegnos Gesicht mit diesem gehabt haben mochte. Er stand hinter einem mächtigen Tisch, als ich hereinkam, eine schmale Figur mit blasser Gesichtshaut und dunklen Gewändern, die den Rücken den nach Osten gerichteten Fenstern zugewandt hatte und im Sonnenlicht stand. Er hatte vergessen, die Dokumente und Schreibutensilien auf dem Tisch neu zu arrangieren, und so konnte man erkennen, dass er zuvor auf dieser Seite des Tisches gestanden hatte, seine Arbeitsfläche in der Sonne. Ganz bewusst hatte er sich mit dem Rücken zum Fenster postiert, um mich in das helle Gegenlicht blinzeln zu lassen. Mehrere Öllämpchen auf dem Tisch verwiesen darauf, dass er bereits vor Sonnenaufgang mit der Arbeit begonnen hatte. Als ich nichts sagte, faltete er die Hände vor dem Bauch, wie er es sich vermutlich in den letzten Monaten angewöhnt hatte, während derer er die Kutte eines Novizen getragen hatte.
    Wenn man mich einschüchtern will, werde ich stur. Wenn es ein zwölfjähriger Knabe versucht, reagiere ich noch sturer. Ich legte die Hände hinter dem Rücken zusammen und starrte ihn an. Es dauerte nur wenige Sekunden, dann wandte er den Blick ab. Mein Sieg schmeckte schal, als ich mir klar machte, dass ich soeben ein Kind mit Blicken niedergerungen hatte.
    Andrea Dandolo tat so, als müsse er ein Dokument prüfen, um seine Niederlage zu kaschieren. Er griff nach einem schlanken Dolch mit langer Klinge und protzigem Griff, mit dem er vermutlich die Siegel auf einigen Schreiben geöffnet hatte. Seine Finger begannen damit zu spielen. Ich bemerkte die vielen kleinen Zacken in der Tischplatte, die von der Spitze des Dolchs stammten.
    »Ich grüße dich, Peter Bernward«, sagte er schließlich in exzellentem Latein, ohne den Blick zu heben.
    Ich erwiderte seinen Gruß. »Wo ist Messèr Enrico?«, fragte ich. »Er hat mich hergebeten.«
    Andrea schüttelte den Kopf. »Ich habe dich hergebeten.«
    »Wozu?«
    Andrea Dandolo verließ seinen Platz hinter dem Tisch und marschierte zu einem Stehpult, das vor dem Fenster stand und offensichtlich genau seiner Größe angepasst worden war. Ich entdeckte ein Pergament auf der schrägen Platte des Pults, das von einem kleinen Säckchen beschwert wurde. Auf der Ablage für die Schreibfeder standen eine brennende Kerze und ein kleines Kästchen. Andrea überflog die wenigen Zeilen, die auf dem Dokument standen, und nickte. Als er das Säckchen mit der Klinge des Dolchs beiseite schob, klirrte es darin.
    »Entlohnung«, erklärte er und warf mir einen kurzen Blick über die Schulter zu. Die Aussicht, mich auszuzahlen, schien seinem Hochmut wieder auf die Beine geholfen zu haben.
    »Ich habe nichts getan, wofür ich entlohnt werden müsste.«
    »Mein Oheim hat dich um Rat wegen meines Bruders gebeten, oder nicht?«
    »Ich glaube, ich habe noch gar nicht mein Bedauern wegen dieses Verlusts zum Ausdruck gebracht«, sagte ich, um ihn aus der Fassung zu bringen. Doch mir war, als redete ich gegen eine Wand.
    »Gott gibt, Gott nimmt«, erwiderte er regungslos.
    »Dein Oheim hatte vor, mich um Rat zu fragen. Ich kam nicht mehr dazu, ihm zu erklären, dass ich ihm keinen geben könne.«
    Andrea dachte ein paar Augenblicke nach. Er stand immer noch halb mir, halb dem Schreibpult zugewandt. Ich hatte mich nicht von der Stelle bewegt. Er musste seinen Oberkörper verrenken, um beides im Blick zu behalten. Er kannte ein paar jener Tricks, wie man einen Gesprächspartner am besten verunsichert; aber er kannte sie nicht gut genug. In ein paar Jahren würde er so weit sein, dass sogar sein freundlichster Gruß seinem Gegenüber mitteilte, wer der Überlegene war. Jetzt jedoch hatte

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