Die Schwebebahn - Dresdner Erkundungen
nichts lenkt von ihr ab.
… und dachte: Wer bist du? In der Ferne Dresden, die Residenzstadt, die auf dem krummen Rücken des Erzgebirges feiert. Hofhunde bellen. Die Stadt im Elbtal.
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Das Zimmer war klein, es befand sich am Ende des Flurs. Die Ärzte legten die Patientenakten beiseite, bevor sie eintraten. Die Visitenschwester ordnete die Mitbringsel, zupfte Schleifen zurecht, strich geknittertes Geschenkpapier glatt, legte den Umschlag mit den neuen Fotos obenauf. Wir besuchten Frau Xylander, die seit ihrer Erkrankung an Kinderlähmung in den fünfziger Jahren in einer Eisernen Lunge lebte.
Das Zimmer war über und über mit Fotos tapeziert, auf allen die Frauenkirche, die meisten an der Decke, dort konnte Frau Xylander sie am besten sehen. Es war Brauch, daß die jüngeren Ärzte des Klinikums regelmäßig nach ihr sahen, versuchten, sie ein wenig zu unterhalten, mit ihr ins Gespräch zu kommen, ihr einen Wunsch zu erfüllen.
Abends öffnete eine Schwester einige der Parfumflakons, die in langen Reihen auf Wandregalen standen. »Meine Geschichten«, sagte Frau Xylander. Ihr Vater, ein Drogist, hatte Düfte für sie gesammelt, war durchs Land gereist, um Parfums zu erwerben, beinahe hundert Marken waren zusammengekommen. »Der Blaue Samt fehlt in meiner Sammlung«, sagte Frau Xylander, »das war ein seltenes Parfum.«
Ich las ihr meine Lieblingsreisebücher vor: »Die Form einer Stadt« und »Um die sieben Hügel« von Julien Gracq; »Der Skorpionsfisch« von Nicolas Bouvier. »Mit seinen unter Azaleen erglühenden Treppen«, schrieb Gracq über den Spanischen Platz in Rom; »Ich fuhr träge im Zickzack zwischen Haufen von frischen, dampfenden Elefantenäpfeln durch, groß wie Bienenstöcke«, schrieb Bouvier über Ceylon. Ihre Augen leuchteten, als ich das vorlas. Auf die Eiserne Lunge, in der sie liegen mußte, um atmen zu können, waren Fotos der Frauenkirche geklebt.
Schwestern und Assistenten hatten es sich zur Aufgabe gemacht, die Baufortschritte der neuen Frauenkirche für Frau Xylander zu dokumentieren, das langsame Wachstum aus allen möglichen Perspektiven festzuhalten. Jede Einzelheit interessierte sie. Ich brachte Gesteinsbrocken mit, weil ich glaubte, Frau Xylander damit eine Freude zu machen; aber sie war entsetzt, ich mußte die Steine zurückbringen. »Sie dürfen nichts nehmen. Es würde fehlen. Diese Steine würden zurückwollen.« Frau Xylander war in der alten Frauenkirche getauft worden, sie hatte Massenhochzeiten von Fabrikbelegschaften gesehen, das murmelnde Beten im Krieg gehört. Hinter ihr hingen vergrößerte Aufrisse und Detailskizzen; auf der Eisernen Lunge waren einige Spiegel so angebracht, daß sie alles genau erkennen konnte.
Wenn jemand vorlas oder eins der Tonbänder mit Geräuschen der Dresdner Brunnen, dem Lärm von der Baustelle am Neumarkt lief, die die Schwestern und Assistenten aufgenommen hatten, starrte sie an die Decke und glich einer Vogelfrau, von der nur der gerötete Kopf aus dem Behälter ragte, in dem sie gefangen war.
»Der Blaue Samt fehlt mir noch«, sagte Frau Xylander. In ihrer letzten Nacht lag auf der Eisernen Lunge ein Tuch, die Frauenkirche war eingestickt, das ganze, lückenlose Gebäude.
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Neptunbrunnen: Oft habe ich auf der ehemaligen Chirurgischen Station 36 des Friedrichstädter Krankenhauses durch die Fenster eines Patientenzimmers auf den Dreizack Neptuns geblickt, der gebietend auf Dresdens bedeutendstem Barockbrunnen steht, irritierend alltäglich gerahmt von den Häuserzügen an der Wachsbleichstraße und der Institutsgasse. Worauf wies seine Hand? (Dieser Ausstoß an kristallinem Blut, schüttend und gar nicht anheimelnd, wie eine getroffene Halsschlagader.) Unter seinen Blicken lernte ich gipsen, Verbände anlegen, Anamnesen schreiben, tastete mich vor in das fallenreiche Handwerk des Operierens. Ich mochte diesen Brunnen, am meisten im Winter, wenn der Krankenhausbetrieb etwas Unwirkliches bekam, die Beleuchtungskörper in den Fluren und Stationen eher Anglerfischen in Meerestiefen glichen als Hilfsmitteln, die den Tag so nüchtern vertraten, daß jemand in der Verwaltung dafür zuständig sein mußte und sie mit dem Menschenfleisch, das sie zu Visiten erhellten, nichts zu tun hatten, nicht einmal mit den Gesichtern, die eigentümlich entleert, puppenhaft, in den Kopfkissen lagen. Wenn ich Zeit hatte, zum Brunnen zu gehen, nach dem Dienst oder nachts, in Pausen zwischen Ambulanz und Stationssorge, kehrten die Blicke in die
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