Die Schwebebahn - Dresdner Erkundungen
Audens Hüten akzeptieren werde. ›Es gab eine Arbeitermütze mit glänzendschwarzem Schirm, die er kaufte, als er in Berlin lebte, und die am Ende verbrannt werden mußte, weil er sich eines Abendsim Kino in sie erbrach.‹« Urvasis Traum, zugleich ein erklärtes Ziel der Quitten-Gesellschaft, war es, nachts ins Schloß einzubrechen und eine Party auszurichten; Mokka von Dinglingers »Goldenem Coffezeugk«; Russisch Brot, gereicht vom Mohr mit der Smaragdstufe; Hunderte italienische Tenöre von Hunderten dieser mobilen, mit zwei Plattentellern versehenen Turntables; zum Abschluß »Salem-Aleikum, Cigaretten für Feinschmecker« mit einer geschälten Quitte.
Villa Marie 1982
Fürstenzug, Oberarzt Hellmich: Dieser hochgewachsene, sehnige Mann kam mit dem Rennrad ins Krankenhaus, früh, wenn die Holländischen Linden die Dämmerung abzuschütteln begannen. Er grüßte nach hier und da, ruderte mit langen Armen zur Chirurgischen Station 22, der Proktologie, schob Blöcke frischer Luft vor sich her, ein in blendendes Weiß gekleideter Magnet, der in die Station und die noch vage wartende Korona aus Assistenten sofort klare Linien brachte. Mitten in der Visite stellte er sich in Positur, heulte den Anfang einer Arie, riß die Augen auf und ließ den Zeigefinger am ausgestreckten Arm kreisen: »Wer sagt’s mir, Rittersmann oder Knapp’?« Er schien ständig unter Strom zu stehen, wehte in die Station hinein, wehte wieder hinaus, bohrte rasch und erfahren einen Finger (die Visitenschwester konnte gerade noch den Fingerling reichen, kopfschüttelnd) in die die Proktologie wesentlich betreffende Körperöffnung, brummte einen Assistenten heran: »Sag an, Mädel« (wir waren alle seine »Mädels«), »wo hockt die Hämorrhoide?« Ich tastete und buddelte, für mich waren alle Hügel gleich. »Elf Uhr, Mensch! Übrigens sind wir Proktologen die wahren Historiker. Wir wühlen in Braun und Blut.« – »Herr Oberarzt«, jammerte eine Neunzigjährige im Nachtdienst, die er rektal untersuchte, »was machen Sie denn mit mir? Kann ich davon schwanger werden?« – »Ach Gott, das weiß ich nicht, gute Frau, man steckt ja nicht drin!« Beim Operieren erzählte er von Otto Rostoski, einem sehr verdienten Dresdner Arzt (er eröffnete die vermutlich weltweit erste Diabetikerambulanz), für seine Zerstreutheit bekannt. Nach dem Krieg hatte er viele Tuberkulosefälle zu betreuen, eines Tages reichte man ihm ein Baby zur Untersuchung. Nun stellen Sie sich doch nicht so an, sagte Rostoski, ungehalten das Baby abhorchend, und atmenSie endlich mal tief ein! Er verließ die Klinik in Straßenschuhen und betrat die Straßenbahn auf Strümpfen, gewohnt, vor seiner Wohnung die Schuhe auszuziehen; mitleidige und wissende Dresdner brachten die Schuhe unterdessen zu seiner Frau. Hellmich, ein glänzender Operateur, präparierte geduldig eine um die andere der vielen Gewebsschichten, schweigend, beugte sich aber plötzlich zurück, um lachend aufzubrausen (man wußte nie genau, ob er es ernst meinte, deshalb war er auch gefürchtet) oder nach der Position von Friedrich dem Gebissenen und Albrecht dem Entarteten im Fürstenzug zu fragen. Manchmal erkundigte er sich bei der OP-Schwester nach Dr. Birkes, der im D-Saal der Unfallchirurgen operierte, derzeitigem Musikangebot (Dr. Birke, mein ehemaliger Stationsarzt, hörte Puff Daddy, bevor er sich P. Diddy nannte); Oberarzt Hellmich bevorzugte Barock.
Porzellansammlung: »Ein Augenblick des Glücks«, schrieb Herr Löwe in einem seiner Stadtbriefe, »eine Frau, die an einem sonnigen Tag aus der Frauenkirche in die venezianische Schläfrigkeit des Neumarkts tritt, und es scheint, daß diese Frau mit den angenehmen Seiten der Verwaltung zu tun hat; sie blickt kurz in die Helligkeit und sagt zu einem Bekannten, der vorüberkommt: Na? Wohin gehen wir heute essen? Sie haben die Auswahl einer wohlhabenden Stadtmitte: Pulverturm, Hilton, Kurfürstenhof, Coselpalais, Hotel de Saxe mit dem Stein der Buchstaben, oder eine Thüringer Rostbratwurst am Stand in der Münzgasse.«
Albertinum, Staab Architekten: Alt und Neu, dazwischen die Zukunft.
Kupferstichkabinett, Widerstandsabteilung: Und doch gibt es in Dresden unter der Oberfläche der Anpassung eine ins Leben drängende widerborstige Lava; wie überall begehrt Jugend gegen die Dogmen der Väter auf, deren größtes, hier, der Dresdner Zentralmythos von der unfaßbar schönen Stadt, die auf unfaßbar grausame Weise zerstört wurde, ist – und deren
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