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Die Schweigende Welt Des Nicholas Quinn

Die Schweigende Welt Des Nicholas Quinn

Titel: Die Schweigende Welt Des Nicholas Quinn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Colin Dexter
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zwei Stock tiefer, zusammen mit drei Müttern, die auch kürzlich entbunden hatten. Das Gespräch drehte sich ausschließlich um Babies, und Joyce war bester Stimmung. In ein paar Tagen würde sie entlassen werden, und sie spürte, wie sich tief in ihr eine seltsam befriedigende Aufwallung mütterlicher Gefühle regte. Sie liebte ihren süßen kleinen Jungen. Inzwischen stand fest, daß alles mit ihm in Ordnung war. Noch offen war die Namensfrage. Frank hatte zu erkennen gegeben, daß er Nicholas nicht so toll fand, und Joyce hatte ihm die Entscheidung überlassen. Sie selbst war auch nicht so begeistert von dem Namen, es war eigentlich recht unverfroren, daß sie ihn überhaupt ins Spiel gebracht hatte. Sie hatte einfach mal sehen wollen, ob Frank etwas ahnte, was offenbar nicht der Fall war. Und eigentlich war ja auch alles ganz harmlos gewesen.
    Angefangen hatte es kurz nach Nicholas Quinns Einzug Anfang September. Ständig war ihm etwas ausgegangen, mal die Streichhölzer, mal der Zucker, mal die Milch. Und er war so dankbar gewesen und so aufmerksam – wo sie doch schon im sechsten Monat war. Und dann, an einem Samstagvormittag, hatte sie plötzlich keine Milch mehr, Frank mußte wieder mal seine ewig lange Schicht schieben, und sie war in Nachthemd und Morgenrock zu ihm heruntergegangen. Sie hatten lange in der Küche zusammengesessen und Kaffee getrunken, und sie hatte sich danach gesehnt, daß er sie küßte. Was er dann auch getan hatte – neben ihr stehend, die Hände auf ihren Schultern. Dann hatte er behutsam ihren Morgenrock aufgemacht, die rechte Hand tief in ihr Nachthemd geschoben und zärtlich ihre kleinen, festen Brüste gestreichelt. Danach war es noch dreimal passiert, und sie empfand eine tiefe Zärtlichkeit für ihn, denn er forderte sonst nichts von ihrem Körper, strich nur mit sanften Fingerspitzen über ihre Beine und ihren gewölbten Leib. Und nur dieses eine Mal hatte sie mehr getan, als sich passiv zurückzulehnen und sich dem köstlichen Schauer seiner Berührung zu überlassen. Nur dieses eine Mal hatten ihre ausgestreckten Finger ihn scheu und leicht gestreichelt. Nur ganz leicht, wirklich. Und sie hatte eine tiefe innere Freude empfunden, als er seinen Kopf an ihre Schulter legte, und was sie ihm damals zugeflüstert hatte, darum kreisten jetzt ihre schuldbewußten Gedanken. Aber Frank würde es nie erfahren, und sie nahm sich vor, daß sie niemals, wirklich nie …
    Um vier wachte sie von dem Geschirrklappern auf, und eine Viertelstunde danach kam der Wagen mit Zeitungen und Zeitschriften vorbei. Sie kaufte die Oxford Mail.
     
    Morse kam ein paar Minuten früher als verabredet, aber der Präsident des Verbandes erwartete ihn in seinem eichengetäfelten Büro. Sie sprachen unverbindlich über dies und das, bis fünf nach vier ein Diener klopfte und ein Tablett hereinbrachte.
    »Ich dachte mir, wir trinken einen Darjeeling zusammen, wenn es Ihnen recht ist.« Die Stimme war vollmundig und weltgewandt, wie ihr Besitzer.
    »Sehr schön«, sagte Morse, der mit ›einem Darjeeling‹ nichts anfangen konnte.
    Der weißbekittelte Diener schenkte das dunkelbraune Gebräu in Tassen aus Bone China mit dem Wappen vom Lonsdale College.
    »Milch, Sir?«
    Morse betrachtete die Szene distanziert und leicht belustigt. Der Präsident nahm offenbar immer eine Scheibe Zitrone und einen halben Teelöffel Zucker, den der Diener fast grangenau abmaß und feierlich verrührte. Vermutlich ließ sich der alte Knabe von seinem Diener auch noch die Schnürsenkel binden. Wolkenkuckucksheim. Morse nahm einen Schluck Tee. Er sah, daß der Präsident verständnisinnig lächelte.
    »Nicht so ganz Ihr Stil, wie? Kann ich Ihnen nicht verdenken. Er ist jetzt fast dreißig Jahre bei mir und ist fast … Aber entschuldigen Sie bitte, beinahe hätte ich vergessen … Sie kommen wegen Quinn. Was wollen Sie wissen?«
    Der Präsident schien ein sensibler, hochgebildeter Mann zu sein. In einem Jahr, mit Fünfundsechzig, würde er sich zur Ruhe setzen. Daß der Mord an Quinn nun seine lange, verdienstvolle Tätigkeit für den Verband beschattete, machte ihm sichtlich Kummer. Morse fand diese Einstellung etwas egoistisch.
    »Würden Sie sagen, daß in der Geschäftsstelle ein gutes Arbeitsklima herrscht, Sir?«
    »Ja, und ich glaube, das würde Ihnen jeder bestätigen.«
    »Kein Streit? Keine persönlichen Animositäten?«
    Der Präsident wirkte leicht verlegen, offenbar hatte er da doch gewisse Vorbehalte. »Nun ja, gewisse

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