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Die Schweigende Welt Des Nicholas Quinn

Die Schweigende Welt Des Nicholas Quinn

Titel: Die Schweigende Welt Des Nicholas Quinn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Colin Dexter
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Handtuch geworfen. Es war alles so wie immer. Seitenweise mußte er sich durch hingekrakeltes, unidiomatisches, irrelevantes Gewäsch kämpfen, um Myriaden von Grammatik-, Syntax-, Konstruktions-, Orthographie- und Interpunktionsfehlern mit roter Tinte zu korrigieren. Es war ein beschwerliches Geschäft, und er wußte eigentlich nicht recht, warum er sich dieser Mühe jedes Jahr von neuem unterzog. Falsch – er wußte es sogar sehr gut. Korrekturen bedeuteten zusätzliches Bares, und wenn er nicht arbeitete, saß er doch nur vor dem Fernseher und stritt mit der Familie über die Senderwahl. Er blätterte die ersten Bogen durch. Himmel!
    Diese Ausländer mochten ja in Mathematik oder Wirtschaftskunde oder dergleichen ganz gut sein, aber mit Englisch kamen sie nun mal nicht zurecht. Was andererseits einen nicht zu wundern brauchte – schließlich war es nicht ihre Muttersprache. Schon nicht mehr ganz so gallig, griff er sich seinen Bleistift und fing an.
    Eine Stunde später hatte er die ersten vier Aufsätze hinter sich. Die Prüflinge hatten sich redliche Mühe gegeben. Aber eigentlich konnte er es mit seinem Gewissen nicht vereinbaren, ihnen eine Note zu geben, die »bestanden« bedeutet hätte. Er hatte seine vorläufige Beurteilung in die rechte obere Ecke der Arbeiten geschrieben: 27%, 34%, 35%, 19%. Die letzte Arbeit würde er vor dem Abendessen rasch auch noch durchsehen.
    Dieser Aufsatz war besser. Bedeutend besser. Je weiter er kam, desto klarer wurde ihm, daß er hier wirklich eine gute Arbeit vor sich hatte. Er legte den Bleistift beiseite und begann mit echtem Interesse, fast mit Vergnügen zu lesen. Der Junge – wer immer er sein mochte – hatte einen wunderbaren Stil. Gewiß, hier und da fand sich auch ein nicht so gelungener Satz, der eine oder andere leichtere Fehler, aber Denniston überlegte, daß er es unter Prüfungsbedingungen selbst kaum besser hätte machen können. Natürlich war dergleichen schon öfter vorgekommen. Ein Prüfling lernte einen ganzen Aufsatz auswendig und schrieb ihn hin, ein Prachtstück, von vorn bis hinten von einem der großen englischen Prosakünstler abgekupfert. Aber in solchen Fällen war das Thema meist so weit verfehlt, daß die Arbeit wertlos war. Das war hier anders. Entweder handelte es sich um einen ungewöhnlich begabten Schüler, oder er hatte ungewöhnliches Glück gehabt. Doch das zu entscheiden war nicht Dennistons Sache. Er hatte nur zu beurteilen, was in der Arbeit stand. Mit Bleistift vermerkte er: 90 %. Und überlegte, warum er nicht 95% oder gar 99% spendiert hatte. Aber wie alle Prüfer hatte er Hemmungen, die Noten voll auszuschöpfen. In jedem Fall würde der Junge die Prüfung mit fliegenden Fahnen bestehen. Ein tüchtiger Kerl. Flüchtig sah Denniston auf den Namen: Dubai. Er sagte ihm nichts.
    In Al-jamara war die letzte der in diese eine Woche zusammengedrängten Herbstprüfungen am vergangenen Nachmittag zu Ende gegangen, und George Bland entspannte sich bei einem geeisten Gin-and-Tonic in seiner klimatisierten Wohnung. Schon nach wenigen Wochen tat es ihm leid, daß er sich verändert hatte. Gewiß, die Stellung war besser dotiert, aber erst nachdem er Oxford verlassen hatte, waren ihm die Vorzüge seines von Streiks geplagten, bankrotten, wunderschönen Vaterlandes so recht aufgegangen. Vor allem fehlte ihm das Gefühl, irgendwo so etwas wie eine Heimat zu haben, es fehlten ihm das abendliche Pub, die Cotswold-Dörfer mit ihren Auen und alten Kirchen, die Konzerte, das Theater, die Vorträge, die von Wissenschaft und Gelehrsamkeit gesättigte Atmosphäre, die Sonderlinge, die unbelohnt und unverdrossen mit ihrer Muse rangen. Er hatte nie gewußt, wieviel ihm das alles bedeutete. Das Klima in Al-jamara war unerträglich und schlug einem auf die Nerven, die Bevölkerung war unendlich fremd – nach außen hin gastfreundlich, aber insgeheim wachsam und argwöhnisch. Ja, er bereute es sehr, sich verändert zu haben.
    Die Nachricht hatte ihn betroffen gemacht, hätte jeden betroffen gemacht. Sie war eigentlich nur als Information gedacht, und es war nett, daß man ihn auf dem laufenden hielt. Das Telegramm war am Mittwochvormittag gekommen: Traurige Nachricht stop Quinn tot stop Mordverdacht stop Brief folgt stop Bartlett. Doch ein weiteres Telegramm war heute vormittag eingetroffen, und das hatte keine Unterschrift gehabt. Er hatte es sofort verbrannt, obgleich er wußte, daß niemand hier die wahre Bedeutung der wenigen Zeilen durchschauen

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