Die Schwere des Lichts: Roman (German Edition)
hat?«
»Sicher.« Birdie hob die Hand. »Lass es erst mal sacken, Ellie. Das ist eine ganze Menge zum Nachdenken. Reicht es dir nicht, zu wissen, dass deine Mutter geliebt und verloren hat?«
»Ich glaube nicht«, sagte ich. »Wirklich nicht. Aber ich werde es versuchen. Doch vielleicht, Birdie, vielleicht kann man auch zu wenig wollen, und dann gibt man sich mit etwas zufrieden, was nicht einmal ansatzweise reicht.«
»Vielleicht, Ellie.«
»Erzählst du mir noch von dem Mythos um dein Sommerhaus?«
»Mythos?« Sie lachte und schüttelte den Kopf. »Wohl eher Gerücht. Es heißt, wenn man in diesem Haus wohnt, kommt die Wahrheit ans Licht, man sieht und versteht sein Leben neu und anders. Ich glaube, es liegt an der Nähe zum Meer. Da ist keine Magie dahinter. Die meisten Leute, die hierherkommen, sind eben auf der Suche. Aber sag niemandem, dass ich so denke – der Mythos erzählt sich einfach zu schön. So ist das eben, ein Gerücht wird zu einer Geschichte und dann zu einem Mythos. Dabei sollte man es belassen.« Sie zwinkerte mir zu.
»Ich bin dabei.«
Ich ging über den Rasen zum Gästehaus und hörte Birdies Fragen im Rascheln der Palmwedel. Reichte es?
Meine Mutter hatte verloren, das passiert jedem. Wenn man verliebt ist, kann sich das Herz den Verlust nicht vorstellen. Als ich Rusty kennenlernte, hätte ich mir auch nicht vorstellen können, dass seine Worte, die damals so sanft und süß waren, Schmerz oder Verlust bringen würden.
Rusty hatte mich angesprochen, als ich in der Bibliothek für eine Geschichtsprüfung lernte. Ich saß an einem Tisch in der hintersten Ecke, das Haar zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden, einen Bleistift unter das Gummiband gesteckt. Ich war voll und ganz in die Schlacht um Waterloo vertieft, als Rusty Calvin mir auf die Schulter tippte. »Hallo, süße Ellie.«
Er setzte immer das Wort süß vor meinen Namen, was mich rot werden ließ. Ich kannte ihn. Alle kannten Rusty.Er gehörte zu einer Studentenverbindung, war auf allen Partys eingeladen, Teil der Elite von Atlanta. Solche Jungs geben sich nur mit den Allerhübschesten ab. Er war mit meinem halben Studentinnenwohnheim aus gewesen, war an der Peripherie meines Lebens immer wieder aufgetaucht. Er brauchte einen Stift. Er wollte wissen, ob ich die Zusammenfassung von Kapitel 4 hätte. Ich gab ihm beides.
Er saß am Tisch neben mir, und als ich meine Papiere und Bücher zusammensammelte, meinen Rucksack packte und aufstand, tat er das Gleiche und lud mich ganz nebenbei zu einer Party ein, zu der er gerade wollte.
Scheidewege. Wir alle gehen darauf zu und wissen häufig erst im Nachhinein, dass wir vor einem solchen gestanden haben. Hier war meiner. Hutch war wegen eines Rugbyspiels nicht in der Stadt, und ich hatte genug gelernt für heute. Das war alles. Nur das, und es veränderte alles.
Ich hatte nie darauf abgezielt oder gehofft, zu den Reichen und Schönen zu gehören. Aber es wurde immer verführerischer, dabei zu sein. Das allmähliche Ende meiner Beziehung zu Hutch hatte nichts mit abklingenden Gefühlen zu tun. Oder vielleicht doch, aber ich behauptete das Gegenteil. Ich sagte, unsere Distanz läge nur daran, dass ich selbständiger war, neue Dinge machen und neue Freunde haben wollte.
Rusty blieb bei seiner entschlossenen Jagd auf mein Herz immer geduldig. Er sagte, er würde akzeptieren, dass ich einen anderen liebe und dass er nur mit mir befreundet sein wolle. Er lud mich zu jeder Party, jeder Unternehmung, jedem Ausflug an den See ein und sagte immer: »Komm schon, als Freunde.« Er ging mit mir aus, erflirtete, er machte mir Geschenke und ließ sich auf tiefe, offenherzige Gespräche ein, wie ich sie danach nie wieder mit ihm geführt habe. Natürlich wusste er, dass der Tag, der Moment kommen würde, an dem wir nicht mehr bloß Freunde wären, also wartete er.
Ich weiß, dass große Entscheidungen das Ergebnis von kleineren Entscheidungen über einen längeren Zeitraum sind, und zu behaupten, dass ich Rusty Calvin auf einer Gartenparty ganz überraschend und unverhofft küsste, ist teilweise wahr und dann wieder überhaupt nicht wahr. Wahr ist, dass ich Hutch nicht verletzen wollte. Ich wollte nicht, dass er in dem Moment am Garten vorbeifuhr und mich mit Rusty sah. Ich wollte nicht »betrügen«. Aber das tat ich, und Hutch sah es und war verletzt.
ug ist.«
Auszug aus Lillian Ashfords Tagebuch
Silvester 1961
Einundzwanzig Jahre alt
Ich weiß, das sind nur sechs zufällig
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