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Die Schwerelosen

Die Schwerelosen

Titel: Die Schwerelosen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Valeria Luiselli
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Gewissheit zurück, dass sie in meinem Bauch ein Herz hatte,ein Herz mit einer Aorta, voll mit Blut; ein Schwamm, ein pochendes Organ.
    *
    Ein kompakter, durchlässiger Roman. Wie das Herz eines Babys.
    *
    In dem Exemplar der Gesammelten Werke von Owen, das ich aus der Bibliothek hatte, war eine Abteilung mit Fotos, die auf eher zufällige Weise zwischen die Seiten von
Roman wie eine Wolke
eingefügt waren. Eines der Fotos weckte meine Aufmerksamkeit. Zwei Drittel von Owens Profil nahm fast die gesamte Fläche ein. Eine breite Stirn und eine gelockte Strähne. Die Nase dünn, fast ein Schnabel. Die Braue verschattete ein kaum vorhandenes Lid und das träge, sanfte Auge. Gerade mal eine Ahnung von der Oberlippe. Alles Übrige schwarz. Ein Mann fast ohne Gesicht. Ich riss das Foto behutsam heraus und legte es auf einen der Äste des toten Bäumchens neben meinem Schreibtisch – ich hatte sowieso nicht vor, das Exemplar zurück in die Bibliothek zu bringen.
    *
    Mein Mann und ich sehen uns mit den Kindern einen Film an. Der Film heißt
Cloudy with a chance of meatballs
. Eine lachhafte Geschichte. Als Vernünftigste von uns vieren schläft die Kleine nach ein paar Minuten ein; der Mittlere hält nicht viel länger durch. Wir legen die beiden in ihr Bett beziehungsweisein die Wiege und sehen sie schlafen. Auf irgendeine Weise lieben wir uns in ihnen, durch sie hindurch. Vielleicht mehr durch sie als durch uns selbst hindurch – als hätte sich der leere Raum, der uns zusammenführte und trennte, nach ihrer Ankunft mit etwas angefüllt, mit etwas uns Fremdem, das sich jetzt aber als unerlässlich für unsere Rechtfertigung erweist. Wir küssten die Kinder auf die Stirn, schlossen die Tür zu ihrem Zimmer, warfen uns auf unser Bett und sahen den Film zu Ende, ohne dabei schläfrig zu werden.
    *
    Manchmal schlief ich im zehnten Stock meines Gebäudes in einem Sessel, weil in meiner Wohnung wenig Luft und zu viel Lärm war. Immer lag da Moby in der Badewanne; aß Pajarote seinen Toast zum Frühstück; da war Dakota mit dem Kübel; White, der wieder diese schrecklich traurige Geschichte erzählte; dazu die Bedrohung durch die lebenden Pflanzen; und ein toter Baum und ein Foto von dem Gespenst Owen, das mich nicht schlafen ließ.
    *
    Ich schleppte White in eine Bar in meiner Nähe, um ihn betreffs Owen zu überzeugen. Den ganzen Tag über hatten wir über San Juan de la Cruz gesprochen, über einen klugen Aufsatz, den jemand über ihn geschrieben hatte. Wir hatten den Text dabei, weil der Verlag eine kommentierte zweisprachige Ausgabe von
Cántico espiritual
herausbringen wollte. Wir hatten den Tag damit verbracht, uns Verse ins Gedächtnis zurufen, die einsamen, bebuschten Täler, und bestellten noch einen Whisky. Dann und wann ließen wir unsere Getränke auf dem Tresen stehen und gingen raus, um eine zu rauchen. In einer dieser Pausen versuchte ich, White eine Lüge aufzutischen.
    Weißt du, dass Gilberto Owen genau diese Bar frequentierte?
    Nein, das glaube ich nicht, dieses Lokal hat in den Dreißigern oder Vierzigern aufgemacht, und nach Deinem Bericht ist Owen früher in New York gewesen.
    Na gut, dann eben nicht. Aber weißt du, dass er mit García Lorca befreundet war?
    San Juan, reden wir lieber über San Juan. Wie übersetzt man diese wunderbare Kakophonie? »Ein was weiß ich, was sie nunmehr stammeln«?
    Jemand hatte meinen Drink gepantscht, während wir draußen rauchten. Als wir zurückkamen, leerte ich das Glas in einem Schluck und spürte plötzlich, dass ich White begehrte. Ich wollte ihn küssen, aber er ließ es nicht zu. Um seinen Kopf legte sich ein blauer Schein. Du bist wie San Juan, White. Ich geh mal zur Toilette, sagte er. Der Kellner hinter dem Tresen erschien mir riesengroß, in die Länge gezogen. Er hatte ganz lange Zähne, ein dämonisches Lächeln. Die Leute lachten. White blieb schrecklich lange weg. Ich schloss einen Moment die Augen. Als ich sie wieder öffnete, sah ich neben mir William Carlos Williams, er trug eine riesige Brille und untersuchte die Vagina einer Frau, die auf dem Tresen lag; auf einem Tisch stand der Poet Zvorsky unddirigierte ein imaginäres Orchester; Ezra Pound hing in einem Käfig in der einen Ecke der Bar und García Lorca warf ihm Erdnüsse zu, die er begeistert auffing. Gehen wir, hörte ich White hinter mir sagen. Ich bestand darauf zu zahlen, aber man hatte mir die Tasche gestohlen. Er zahlte und wir gingen zur Tür. Bevor wir hinausgingen, sah ich Owen, der

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