Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Schwerelosen

Die Schwerelosen

Titel: Die Schwerelosen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Valeria Luiselli
Vom Netzwerk:
schreibt an Celestino Gorostiza): New York sieht man erst von der
subway
aus richtig. Dort hört die flache, horizontale Perspektive auf. Eine klobige Landschaft beginnt, mit doppelter Tiefe, oder dem, was man die vierte Dimension nennt, die der Zeit.
    *
    Dakota gefiel mein toter Baum. Und mir gefiel, dass er ihr gefiel. Er leistet mir Gesellschaft, und wir reden über viele Dinge, sagte sie mir einmal. Und was sagt er dir? Er sagt mir nichts, er ist tot. Sie hat ihn gegossen, während ich beruflich verreist war. Der Frühling war gekommen, und allenthalben sprossen Blumen hervor. Die ersten sind immer die Narzissen, erklärte mir Dakota, die auf irgendeine Weise ihrer Gier, gesehen zu werden, poetische Gerechtigkeit widerfahren lassen. Aber der Baum schlug nicht wieder aus. Als ich von der Reise zurückkam, hatte Dakota mir Fisch mit Gemüse zubereitet. Wir tranken eine Flasche Wein und sie sagte mir, dass sie sich von ihrem Freund trennen wolle, ob sie eine Weile bei mir wohnen könne, bis sie etwas für sich allein gefunden habe. Warum willst du ihn verlassen?, fragte ich. Sex, sagte sie.
    Dakota hatte ein wunderschönes Gesicht. Sie sagte gerne, dass ihr Gesicht zerstört sei – in ihrer Jugend hatte sie Marguerite Duras gelesen, und sie war überzeugt davon, dass Schönheit ein wenig französisch sein musste. Vielleicht stimmte das ja, Dakota sah Anaïs Nin ähnlich und hatte einen Haarschnitt wie Jean Seberg in
À bout de souffle.
    *
    Moby war der Baum mit der künftigen Geschichte von Owen egal. Er hängte seine Handschuhe darüber, wenn er in die Wohnung kam, als sei es ein Garderobenständer.
    *
    Bei meinen Suchaktionen in den Bibliotheken stieß ich nie auf irgendetwas Wichtiges oder Erhellendes, aber ich log White etwas vor. Ich sagte ihm, dass ich in der kleinen und chaotischen Bibliothek des Spanischen Hauses an der Columbia University ein anonymes Manuskript, fehlerhaft getippt und kaum lesbar, gefunden hätte, mit einer Reihe von kommentierten Übersetzungen von Owens Gedichten. Höchstwahrscheinlich stammten die Übersetzungen von Zvorsky: Sie seien mit JZ&GO signiert. Es war die am wenigsten glaubhafte Lüge aller möglichen Lügen rund um Owen herum, aber White schlug sich auf meine Seite. Ich versprach, ihm Proben von einer wörtlichen Transkription zu bringen, die ich demnächst anfertigen wollte.
    *
    Dakota zog zu mir. Sie kam mit einem dunkelgrünen Köfferchen in der einen und einem neuen Eimer in der anderen Hand. Wenn ich die Nacht nicht woanders verbrachte, schliefen wir beide in meinem Bett, obwohl Dakota immer sehr spät von ihrer Arbeit kam. Sie schlüpfte nackt ins Bett und schmiegte sich an meinen ebenfalls nackten Rücken. Sie hatte weiche, üppige, Brüste; kleine Brustwarzen. Sie sagte, sie habe philosophische Brustwarzen.
    *
    Mein Mann hat wieder ein paar dieser Seiten gelesen. Hast du mit Frauen geschlafen?, fragt er mich.
    *
    In der Stunde der Wahrheit gibt einem die eigene moralische Hygiene den Rest. Das sagte Enrico zu mir, ein alter Ozeanograf, der in Rom geboren war und im zehnten Stock unseres Gebäudes wohnte. Enrico und ich haben uns im Fahrstuhl kennengelernt. Er hatte ein Dickicht weißer Haare auf dem Kopf, eine Hakennase, riesige Nasenlöcher, an deren Rändern ewig Rotzreste hafteten. Wir waren beide unterwegs zum Keller, wo die Waschmaschinen und die Mülltonnen standen. Ich hatte einen Sack schmutziger Wäsche dabei, er seinen Abfall. Es war kein richtiger Müll, vielmehr ein grauer Koffer mit Schrott.
Estuff
, sagte er, als ich ihn fragte, was er da drinhabe. Bei den Mülltonnen holte er dann sein Zeugs hervor und verteilte es auf Häufchen, die er dann nach und nach in die verschiedenen Container warf. Ich beobachtete ihn von einer der Waschmaschinen aus, hielt mich länger als üblich bei diesem bescheidenen Hygieneritual auf. Ich belauerte ihn. Zuletzt holte er einen alten Plattenspieler aus dem Koffer. Ich fragte, ob der noch ginge. Ja, ja, der ginge. Ich durfte ihn mit in meine Wohnung nehmen. Ich schenke dir dann noch ein paar Platten dazu, sagte er. Das hat er nicht eingelöst. Eines Tages aber lud er mich zum Abendessen in den zehnten Stock ein.
    *
    Aber hast du denn mal mit einer Frau geschlafen?, insistiert mein Mann. Nie, antworte ich. Ich wüsste nicht, wie.
    *
    Merke: Owen wog sich jeden Tag, bevor er in die Metro stieg. An der Station 116. Straße stand eine Waage, die ihm die Gewissheit bescherte, dass er sich auflöste. 126 Pfund, 125 Pfund. Wie

Weitere Kostenlose Bücher