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Die Schwerelosen

Die Schwerelosen

Titel: Die Schwerelosen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Valeria Luiselli
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Tage später an. Am Sonntag.
Detective Matías speaking
, sagte er. Am Tag darauf ging ich zu ihm ins Büro, ein öffentliches Amt, gegenüber der Grundschule St. Mary’s. Beim Empfang standen ein paar Holzstühle, und da war eine Pinnwand aus Kork mit den Neuigkeiten der Woche: Fotos von Vermissten, Notrufnummern, eine Auflistung möglicher Vergehen, eine mit Schreibmaschine geschriebene Meldung über einen katholischen Priester, der von den Mitgliedern einer Bande mit einem Baseballschläger auf den Kopf geschlagen worden war. Wieder und wieder: Gesichtsund Schädelverletzungen.
    Der Wartesaal roch nach Pisse. Eine Sekretärin führte mich in einen Raum, in dem vermutlich die Verhöre durchgeführtwurden. Ein junger Kerl mit andinen Zügen und einem Akzent aus der Bronx kam herein. Die Karikatur eines Detektivs: Hut, Hosenträger und Zahnstocher. Detektiv Matías bot mir einen Kaffee an.
    *
    Ich mag keine Zombiefilme, warum hast du geschrieben, dass ich sie mag?
    Einfach so.
    Lösch das mit den Zombies, bitte.
    *
    An einem Abend, als wir noch Manuskripte fertiglesen mussten, lud mich White zu sich ein und bestellte Pizzas. Wir arbeiteten bis spät in der Nacht, und etwa um vier Uhr morgens schlief White mit verquetschtem Kopf auf der Tischplatte ein. Ich döste in einem Sessel bis zum Morgengrauen, blätterte zwischendurch in den Büchern, die stapelweise überall in der Wohnung lagen. Ich hörte, wie er zufrieden auf der Tischplatte schnarchte. Wie ich seiner Privatbibliothek entnahm, hatte White eine Vorliebe für Joshua Zvorsky. Ich kam darauf, dass es vielleicht über diesen Umweg möglich wäre, ihn von der Bedeutung Owens zu überzeugen. So funktioniert literarischer Erfolg, zumindest auf einer Ebene. Alles ist ein Gerücht, ein Gerücht, das sich reproduziert, bis es sich in Wertschätzung verwandelt.
    *
    Ich bin noch mehrmals in die Bibliothek der Columbia University gegangen, auf der Suche nach irgendeinem Buch, einer Zeitung, einem Archiv, was auch immer, irgendetwas, das die Zeit, die Owen hier in New York verbracht hatte, erhellen könnte. Auf Empfehlung von White legte ich über alles, was irgendwie mit Owen zu tun hatte, ein Register an. Ich schrieb mir Notizen auf gelbe Klebezettel, die ich, sobald ich wieder in meiner Wohnung war, an die Äste des verdorrten Baums klebte, um nichts zu vergessen, um wieder auf sie zurückgreifen und eine Ordnung herstellen zu können. Die Idee war, dass die Zettel, wenn der ganze Baum bespickt war, von alleine runterfallen würden. Ich würde sie in der Reihenfolge, wie sie hinunterfielen, aufsammeln und in eben der Reihenfolge über Owens Leben schreiben. Der erste Zettel war:
    Merke: Die Metro in NY wurde 1904 gebaut.
    Ich bewahre die Notizen immer noch auf. Als wir in dieses Haus zogen, habe ich sie aus dem Umschlag geholt, in die ich sie gesteckt hatte, als ich jene Stadt verließ, und sie an die Wand vor meinem Schreibtisch geklebt. Das mittlere Kind lernt gerade das Lesen und verbringt Stunden vor der Wand bei der Suche nach irgendeinem Sinn auf diesen Papieren. Es stellt mir keine einzige Frage. Mein Mann dagegen will alles wissen.
    *
    Dakota sang in drei verschiedenen Bars, und wenn sie schnelles Geld brauchte, sang sie in der Metro. An einem Abend bin ich zum Zuschauen an eine Station der Linie 1 gegangen. Ich hatte meinen Holzstuhl mitgenommen und ihn mit der Lehne zur Wand am Perron hingestellt, den Blick auf die Gleise. Dakota und ihr Freund hatten sich in der Mitte des Ganges aufgestellt. Ihr Freund spielte neben ihr Gitarre und sah sie an, wie ein Bauchredner seine Puppe ansieht, wie wir Eltern unsere Kinder ansehen. Die Züge fuhren seitlich an ihnen vorbei. Es war klar, dass er sie zugleich verachtete und achtete. Die Züge hielten vor mir. Er betete sie an und hatte Angst vor ihr. Er spielte recht ordentlich an jenem Abend, und sie sang so, wie ich es noch nie von ihr gehört hatte. Hunderte von Menschen kamen aus den Zügen, aber keiner blieb stehen, um ihnen zuzuhören. Dakota war eine Mischung aus Vincent Gallo und Kimya Dawson, im Körper einer künftigen greisen Jüdin. Sie bewegte sich mit der Anmut einer Mohrrübe, aber das Timbre ihrer Stimme durchdrang den Bahnhof und meinen Kopf mit der weichen Gewalt der tiefen Schmerzen. Ein Zug hielt an. Hinter Dakota glaubte ich unter den vielen Gesichtern aus der Metro das Gesicht von Owen zu erkennen. Es war nur eine Sekunde. Aber ich war sicher, dass auch er mich gesehen hatte.
    *
    Merke (Owen

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