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Die Schwerelosen

Die Schwerelosen

Titel: Die Schwerelosen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Valeria Luiselli
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erneut jeden Mittwoch bei mir auf. Wir frühstückten Toast mit Käse und Honig; ich trank Milchkaffee und Pajarote eine Dose Coca-Cola. Er erklärte mir Theorien über die Konventionalität und den Grad an semantischer Schwammigkeit bei Metaphern. Er schrieb an einem Essay über Urteile und ihre semantische Beziehung zu einem Wort, das im Zusammenhang zur uneigentlichen und eigentlichen Bedeutung der Aus sagen steht. Mir gefiel die Katzen-Theorie besser. Pajarote redete mit vollem Mund, während er seinen Toast kaute. Die Brösel fielen auf Tisch und Küchenboden. Wenn er gegangen war, staubsaugte ich frenetisch die Wohnung.
    *
    Die eigentliche und uneigentliche Bedeutung der Aussagen: Enrico war kein Ozeanograf, er war Professor für Ozeanografie.
    *
    Detektiv Matías ließ sich ein paar Monate Zeit, bevor er sich wieder bei mir meldete. Aber schließlich rief er an. Wir stellen die Ermittlungen ein, berichtete er am Telefon, man hatmich in ein anderes Viertel versetzt. Ich entschuldige mich persönlich dafür, nichts erreicht zu haben. Einmal bin ich noch in sein Büro in der 126. Straße gegangen. Er bot mir einen Kaffee an und erzählte mir von seiner Kindheit als Junge aus Ekuador in der Bronx. Er hasste die Schwarzen, und das ohne jede Scham. Als er ein Kind war, hatten ihm zwei Afroamerikaner im Pausenhof die Fresse poliert, weil er den Ball nicht in den Korb bekam. Die Fresse poliert und mir dann die Hosen und die
panties
runtergezogen, sagte er. Alle haben meinen kleinen Arsch gesehen, sagte er, zum ersten Mal auf Spanisch.
    *
    Die Linie eins durchquert Manhattan von Süden nach Norden. Sie beginnt an dem Kai im äußersten Süden der Insel, geht durch Teile von Chelsea und erreicht die Columbia University etwa bei der 116. Straße, wo Owen täglich in den Zug Richtung Süden stieg, nachdem er sich neben dem Schalter auf eine Waage gestellt hatte. Die Linie führt weiter hinauf nach Harlem und wer weiß wohin dann noch. Die Gleise gehen weiter, immer weiter, über die Insel und diese Geschichte hinaus.
    *
    Beim Frühstück verkündete uns mein Mann, er fahre jetzt bald nach Philadelphia und wisse noch nicht, wie lange er wegbleiben müsse. Hast du eine Arbeiterei in Philadelphia?, fragt der Mittlere. Er hört nicht auf ihn, redet weiter. Papa,Papa, beharrt der Mittlere, hast du eine Arbeiterei mit Philadelphia-Käse, Papa?
    Pa-pa, sagt die Kleine.
    *
    Philadelphia kommt immer mehr herunter. Und dieses Apartment ist auch heruntergekommen. Zu viele Dinge, zu viele Stimmen. Da sind drei Katzen, die eines Tages einfach aufgetaucht sind. Ein Gespenst ist ebenfalls aufgetaucht, oder mehrere. Die Gespenster sehe ich nicht, und auch die drei Katzen erkenne ich nicht immer, aber in meiner Welt der weißen Schatten sind sie ein weiteres Hindernis, gegen das ich jeden Tag stoße – wie der Schreibtisch, der Ohrensessel, in dem ich früher las, die halb offenen Türen.
    Natürlich kam meine Blindheit nicht von heute auf morgen, auch die Mitbewohner tauchten nicht auf einmal auf. Aber von dem Tag an, als sich all diese Dinge einzustellen begannen – die Blindheit, die Katzen, das Gespenst und später dann die sporadischen Besuche von Leuten, die ich nicht eingeladen hatte; als Möbel und Dutzende von Büchern, die ich nicht erworben hatte, auftauchten, natürlich auch Fliegen und Kakerlaken, vor allem aber dieser in einen Blumen topf gepflanzte Baum, den ich eines Tages vorfand –, da wusste ich, das war der Anfang vom Ende. Nicht mein Ende, aber das Ende von etwas, mit dem ich mich so stark eins fühlte, dass sein Ende auch mich dahinraffen würde.
    Persönliche Tragödien wie der allmähliche, aber fatale Verlust des Augenlichts fallen über uns herein wie die Katarakteauf die Wasseraugen, in die sie stürzen. Daher vermutlich der Euphemismus von den Katarakten bei grauem Star. Die Blindheit kommt – wie die Strafen und die Katarakte – von oben, ohne einen bestimmbaren Zweck oder ein Ziel; und man akzeptiert sie mit der bescheidenen Resignation der in einem Becken gefangenen Wassermasse, die ständig mehr von sich selbst zugeführt bekommt und schließlich durch ihre eigene kranke Materie ersetzt wird. Meine Blindheit ist schwarz-weiß, und ich trage keinen Geringeren als den Niagara auf der Stirn.
    *
    Die falsche Übersetzung wurde veröffentlicht. Sofort erschienen Rezensionen. Zunächst auf wenig relevanten Internetseiten, die auf Dritte-Welt-Autoren, Übersetzungen und generell auf Minderheitenschriftsteller

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