Die Schwerelosen
wusste nicht, dass ich mit der Zeit tatsächlich vergespenstern würde. Ich war in den Zwanzigern, leistete mir den Luxus, über meinen dünnen Körper zu schreiben, am Fenster zu masturbieren, gehüllt in einen Morgenmantel aus grauer Seide – grau wie meine Jugend in Harlem, verschattet wie alle Jugendgeschichten in Vierteln mit literarischen Namen.
*
Kein fragmentarischer Roman. Ein horizontaler Roman, vertikal erzählt.
*
In jener Stadt bekam man elektronische Einladungen. In der Mitte der Woche erreichte mich eine Einladung von irgendeinem Institut, das in Brooklyn lebende mexikanische Künstler würdigte. Ich wusste vom ersten Augenblick an, in was für einen Albtraum ich mich begab, wenn ich dort hinging. Solche Würdigungen schienen mir schon damals, und ich glaube zu Recht, als eines der vielen Rituale der lateinamerikanischen Barbarei des neunzehnten Jahrhunderts. Der Unterschied lag darin, dass es jetzt keinen Rubén Darío gab, der einen erlösenden Bericht schreiben konnte, um die dafür Verantwortlichen zu schmähen.
Ich bat Pajarote, mich zu der Veranstaltung zu begleiten. Wir werden uns mit kreolischen
trustafarians
gemein machen!, sagte er, und ich erkannte zunächst nicht, ob das Begeisterung oder schlichter Sarkasmus war. Pajarote erklärte mir, dass die Trustafarians wie unsereins ein Gehalt bekamen, allerdings von ihren Eltern. In New York lebten sie als Bohemiens, aber in Mexiko hatten sie Dienstboten in Uniform. Sie zogen sich Kokain rein, waren aber Vegetarier. Sie kleideten sich wie Teenager – T-Shirts, auf denen »Brooklyn« oder »Mind the gap« stand –, aber die Männer hatten wenig Haar und die Frauen Krähenfüße.
Wir mieteten uns irgendwo in Soho altertümliche Kleidung – ich weiß nicht recht, ob aus den Zwanzigern oder aus den Fünfzigern, oder ob es eine ungute Mischung von beiden war – und erschienen untergehakt, voller Ressentiments und Klassenhass. Uns wurden ein Mezcal und ein Brinquito angeboten: Grün oder orange?, fragte ein Girlie in Minishorts,sie trug ein Schild, auf dem »Fani« stand, und einen falschen Schnurrbart à la Frida Kahlo. Beide wählten wir Grün und mischten uns unter unsere Trustafarian-Landsleute.
Ich wollte mit Pajarote reden. Er war der einzige Mensch von moralischer Statur, den ich in dieser Stadt kannte, der einzige, der mir sagen konnte, ob ich White weiter etwas vorlügen sollte oder ihm sagen, dass alles eine große, von mir produzierte Fiktion war. Doch Pajarote war an jenem Abend nicht ansprechbar. Schnell hatte er Fani Brinquitos erobert: Er hatte sich eine falsche Brille aufgesetzt, mit breitem Gestell und dicken Gläsern, und gab sich sehr selbstsicher, wirkte wie ein Londoner Rockstar, schmal und gleichgültig. Ich trank weiter Mezcal mit Hühnerflügel, eher allein, blieb gewissenhaft vor all den Bildern und Installationen im Raum (
loft
) stehen. Ich betrachtete gerade eine Serie mit venenbestückten Frauenfüßen, als sich mir ein kleiner Glatzkopf näherte, der interessant hätte sein können, wenn er sich etwas weniger bemüht hätte, interessant zu sein.
Ich habe diese Dinger gemalt.
Und von wem sind all die Füße?
Von meiner Exfrau.
Pardon.
Pedi wird nicht gegeben … Hast du eine Karte?
(Das hat er gesagt: Pedi.)
Nein.
Das Fräulein hat keine Visitenkarte!
(Eine Person, die mit Ausrufungszeichen sprach.)
Ich geb dir meine … Wenn du erlaubst, male ich dir ein Bild …
(Eine Person, die mit Ausrufungszeichen und Auslassungspunkten spricht.)
Danke.
Wie heißt du?, fragte er.
Owen.
Ist das nicht ein Männername?
Vielleicht.
Ich würde gerne deine Füße sehen.
Meine was?
Der Glatzkopf lud mich in sein eigenes Loft ein. Ich bin Künstler, sagte er, ich lebe hier in Brooklyn – als baute man mit den Worten Künstler und Brooklyn eine sich selbst genügende Welt auf. Wir nahmen ein Taxi, das selbstverständlich er bezahlte. Bevor ich hinausgegangen war, hatte ich mich von Pajarote verabschiedet, betrübt, geschlagen, gedemütigt, hatte aber das Gefühl, mich irgendwie an ihm zu rächen, weil er mir nicht hatte zuhören wollen. Ich stieg in das Taxi, zog die Schuhe aus und legte dem Glatzkopf meine nackten Füße in den Schoß.
*
Ich glaube, in meiner Jugend belastete mich ständig ein Gefühl gesellschaftlicher Unzulänglichkeit – nie war ich der Netteste oder Eloquenteste an einem Tisch; nie der meistgelesene oder beste Schriftsteller; weder der Glücklichste noch der Geschickteste; definitiv nicht
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