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Die Schwerelosen

Die Schwerelosen

Titel: Die Schwerelosen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Valeria Luiselli
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(ethnische, rassenmäßige, sexuelle etc. Minderheiten) spezialisiert waren. Danach erschienen Artikel in den Journalen der Universitäten, sie beglaubigten die Echtheit dieses »in der
Casa Hispánica
der Columbia University aufgefundenen Manuskripts des Dichters Zvorsky über den großen mexikanischen Poeten Gilberto Owen«. Das Department für hispanische Studien an der Universität Austin eröffnete das »Owen-Archiv«; die Artikel, die Owen in den Dreißiger- und Vierzigerjahren für
El Tiempo
in Bogotá geschrieben hatte, wurden von einem Professor gesammelt und in einem Band bei Porrúa in Mexiko City publiziert, ein Buch, das dann sogleich von der Harvard University Press übersetzt und veröffentlicht wurde. Undschließlich kam der Tag, den White so ersehnt und ich mit Horror erwartet hatte: Ein Kritiker von The New York Review of Books wollte mich und White interviewen, um ein großes Porträt des Dichters Gilberto Owen zu schreiben. Wir machten einen Termin in der folgenden Woche aus.
    *
    Vermutlich besteht darin die Krankheit: in einer Ablösung des eigenen Selbst durch einen selbst – durch das Gespenst seiner selbst. Zugleich aber erlaubt die Krankheit, und besonders vielleicht ein Leiden wie das meinige, das sich in der Blindheit ausdrückt, dem davon Befallenen, sich so zu betrachten, wie er das malerische Schauspiel eines mächtigen Wasserfalls betrachten würde – von Weitem, ohne dabei nass zu werden, erschüttert aber nicht
berührt
von dieser Erfahrung. Alles, was mir seit meiner Ankunft in Philadelphia zu widerfahren begann – mein immer fetter werdender Körper, mein im Spiegel entschwindendes Gesicht, die Schatten der Dinge, die platonischerweise die Dinge selbst ersetzten –, widerfuhr jenem anderen, dem Gespenst meiner selbst, dem armen Trottel, der unter dem unablässigen Strahl des Wasserfalls gefangen war.
    *
    In allen Romanen fehlt irgendetwas oder irgendwer. In diesem Roman gibt es niemanden. Außer einem Gespenst, das ich zuweilen in der Metro sah.
    *
    White rief mich am nächsten Tag an. Er lud mich ein, auf Owen zu trinken und den Baum abzusägen. Endlich hatte er sich dazu durchgerungen. Wir würden dazu eine Elektrosäge benutzen, die man mittels eines Verlängerungskabels mit einer Steckdose in seiner Wohnung verbinden konnte. Wir hatten zwei Paar dicke Fellhandschuhe. Gummistiefel. Eine Flasche Whisky. Viel Schwung.
    Aber die Säge taugte nicht, also bestellten wir Pizza und setzten uns auf die Eingangstreppe zu dem Gebäude. White sprach von seiner Frau, davon, wie schwierig die ersten Jahre ohne sie gewesen waren, von der Unmöglichkeit, ihre Kleider wegzugeben, ihre Bücher, ihre Toilettengegenstände. White war ein nicht zu tröstender Mann. Er hatte sich dazu entschlossen, den Verlag aufzumachen, weil der ein von ihr entwickeltes Projekt war.
    Warum hast du mich für den Verlag eingestellt, White?, fragte ich nach einem langen Schluck aus der Flasche.
    Weil ich an dem Tag, als du dich vorgestellt hast, bemerkt habe, dass du den gleichen Tabak wie sie rauchst. Auf diese Weise konnte ich sie tagtäglich riechen. Aber jetzt zu Owen. Lass uns über Owen und Zvorsky sprechen.
    Es hatte mich getroffen, das merkte ich ein paar Stunden später, dass White nie an mich geglaubt hatte. Auch nicht an Owen. Wenn wir Owen publizierten, dann nur, weil White glaubte, dass Zvorsky ihn übersetzt hatte. Wenn er mich ausgewählt hatte, dann nur, weil ich nach demselben Tabak wie seine Frau roch. Ich war eine Spur, eine Rauchfahne, ein Atemzug.
    *
    Ich wog mich jeden Tag auf der Waage in der Subway-Station der 116. Straße. Ich wog jedes Mal weniger, ich verschwand langsam in meinem kleinen Anzug eines ungeliebten Bürohengstes, und ich schrieb an ein sehr hübsches Mädchen, ich nähme langsam zu, jetzt sei ich fast schon ein Mann, sie solle mich heiraten, komm schon, sei nicht so hart. Ich log: 125 Pfund, 126 Pfund. Geliebte Clementina, süße Dionisia, so begannen meine Briefe. Im Grunde glaubte ich selbst nichts von dem, was ich schrieb, aber mir gefiel die Vorstellung, ein zorniger Poet in New York zu sein. Ich führte ein idiotisches Leben, aber es gefiel mir. Ich wahrte eine geradezu metaphysische Distanz zu den Dingen und den Menschen, aber ich mochte das. Ich fühlte mich als Gespenst, und das mochte ich am meisten. Ich wusste nicht, dass ich zu jenen Personen gehörte, die mit der Gabe gesegnet sind,
self-fulfilling prophecies
, wie die Yankees sagen, in die Welt zu setzen. Ich

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