Die Schwerelosen
vielleicht werden sie mich am Ende der Zeremonie entkleiden, mich an Händen und Füßen fesseln, mir die Augenlider hochziehen und mir alle in die Augenspucken. Sie werden auf mich scheißen – Jahre der intesinalen Verdrängung.
Sie hat das Gedicht zu Ende gelesen, und der ganze Raum bebt in der Ekstase des Applauses. Ich strecke den Arm aus, will mich des Dieners an meiner Seite vergewissern. Da ist er. Ich greife seine Schulter:
Verlass mich nicht, Bruder, bleib schön nah bei mir.
Ich bleibe hier, Señor, ich rühr mich nicht vom Fleck.
Sie liest noch ein Gedicht und noch eines. Als sie mit dem letzten fertig ist, das unerklärlich und anmaßenderweise der Poetin Mina Loy gewidmet ist, bricht eine Ovation los, und die Frauen stehen auf. Die Stuhlbeine knarzen auf dem Parkett (woher hat sie nur die vielen Stühle?). Meine Exfrau, Spinne im Zentrum ihres Netzes, blickt mich vom anderen Ende des Raumes an. Ich bin eine winzige Fliege, gefangen in ihrem klebrigen Universum. Der Diener lässt mich los, um sich den Ansprüchen der Damen zu widmen; und ich stehe da, ohne zu wissen, wohin mit der freien Hand; und die andere, die den Martini hält, zittert jetzt ein wenig.
Die internationale Bogotanerin beginnt zu reden: die Poesie, die Auflösung der Identität, die Fremdheit und ich weiß nicht was noch für Criollo-Zeug. Sie macht eine Pause und sagt zum Abschluss: Ich bedanke mich für die Anwesenheit meines Exmannes, des ungerechterweise unbekannten, aber so befähigten Poeten. Die Köpfchen drehen sich mir zu. Was meint sie mit befähigt? Ich muss plötzlich dringend pissen. Dutzende von bemalten Schnäuzchen lächeln – ich kann noch Weiß von Schwarz unterscheiden, und ich weiß, dass sielächeln, weil der abgedunkelte Raum auf einmal wie ein bezahnter Himmel aufleuchtet. Die Olive zuckt im Glas. Die Organe in meinem Anzug zucken. Die Gesichter, die mich sehen, zucken; dort draußen zuckt die Stadt: das andauernde Pumpen des Bluts, die Temperatur der Demütigung. Er soll reden! Er soll etwas sagen! Ich wünsche mir einen plötzlichen Tod, den ich nicht heraufbeschwören kann. Also spreche ich:
Ich bin gekommen, weil man mich eingeladen hat.
(Schweigen.)
Ich bin gekommen, weil ich seit jeher ein überzeugter Feminist bin. Es lebe Mina Loy! Sie lebe hoch!
(Schweigen.)
Eigentlich, Celeste, bin ich gekommen, weil ich dich bitten wollte, mir ein wenig Geld zu leihen, damit ich die Kinder nächstes Wochenende zum Jahrmarkt ausführen kann.
(Schweigen.)
*
Weißt du, was der Unterschied zwischen analytischen Aussagen und synthetischen Aussagen ist?, fragte mich einmal Federico, als wir von einem Arbeitstreffen kamen, bei dem wir festgestellt hatten, dass das Drehbuch ein Reinfall würde, und ich ihm dann erzählt hatte, dass ich eine Frau namens Clementina Otero heiraten wollte, die mich aber kein bisschen liebte.
Nein, erwiderte ich. Was ist denn der Unterschied?
Er blieb mitten auf der Straße vor mir stehen und begann in einem professoralen Ton:
Analytische: wahre Aussagen aufgrund ihrer Bedeutung. Beispiel: »Jeder Junggeselle ist ein unverheirateter Mann.« Synthetische: Sie brauchen noch etwas von der Welt, um wahr zu sein. Beispiel: «Jeder verheiratete Mann glaubt, dauerhaftes Glück bestehe darin, ein Leben lang mit der Hässlichsten zu tanzen.«
Und was bin ich?
Du bist keine Aussage, Gilberto.
*
Deshalb habe ich meine Frau verlassen, weil ich in meinen Vierzigern nicht mehr bereit war, mit der Hässlichsten zu tanzen. Nicht mal in meiner Verfassung, so fett und so blind.
*
Ich habe in meinem Leben einen einzigen Blinden kennengelernt. Er hieß Homer Collyer und erlangte im Jahr 1947, kurz nach seinem Tod und ein Jahr vor meiner endgültigen, fatalen Rückkehr in die United, eine kurze Berühmtheit. Sehr viel früher aber, als ich 1928 nach Harlem kam, lebte Homer mit seinem Bruder Langley, ein paar Straßen von meiner Wohnung entfernt, in einem großen Haus an der Ecke der 128. Straße, das beide von ihren Eltern geerbt hatten.
Homer schleckte ein Eis auf der Eingangstreppe vor dem Haus, und ich ging zu ihm hin, um ihn nach dem Weg zu einer Kirche zu fragen, in der an jenem Sonntag eine besondere Messe abgehalten werden sollte, über die ich für die Jungs der Zeitschrift
Contemporáneos
berichten sollte. EntschuldigenSie, Mister, wo liegt Saint John? Er deutete mit seinem Stock gen Himmel. Ich lachte diskret, aber herzlich, blieb dann etwas begriffsstutzig stehen, wartete darauf, dass
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