Die Schwerelosen
häufig. Ich komme mir keusch vor und inzwischen ohne Übertreibung stark. Ich esse sehr gut und bin eine unkonjugierbare Zeit, Futur Plusquamperfekt. Das Fieber interessiert mich, am meisten jedoch, was ich dadurch verliere, gemessen in Jahrespfunden. Ich wiege 124 Monate. New York ist blau, grau, grün, grau, weiß, blau, grau, grau, weiß usw. Manchmal ist es auch grau. (Nur nachts ist es nicht schwarz.) (Sondern grau.) Und Sie?
*
Mein Mann liest den Kindern ein lehrreiches, moralindurchsäuertes Buch vor, das sie im Zoo gekauft haben; es geht um einen frischgeborenen Delphin, der seinen Klan im Meer verliert, weil er nicht auf seine Eltern gehört hat.
Vielleicht wird er von einem Hai gefressen, spekuliert der Mittlere. Die Stimmen erreichen mich von fern, als wäre ich unter Wasser und sie dort draußen, ich immer drinnen und sie immer draußen. Oder umgekehrt.
Der Babydelphin beginnt zu weinen. Er stößt ein ganz dünnes Pfeifen aus, das wie ein Pfeil durchs Wasser flitzt, fährt mein Mann fort.
Können Pfeile durchs Wasser fliegen?, unterbricht derMittlere. Die Stimme eines Delphins ist einzigartig, liest mein Mann weiter, wie die Fingerabdrücke eines Menschen. Der Mittlere macht Geräusche, wie von Pfeilen, die durch eine Wassermasse dringen.
Pass auf, tadelt sein Vater. Wir sind gleich fertig.
Ich denke über die Frage des Mittleren nach.
Mein Mann liest weiter: Mama Delphin hört ihr Baby, von ganz weit weg.
Findet sie es?, fragt der Mittlere.
Ja, schau, hier auf der letzten Seite sieht man, wie sie es findet.
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Als die Kinder kleiner waren und wir noch in Bogotá, in dem großen Haus in der Straße 70, wohnten, spielten wir Verstecken. Ich versteckte mich hinter den dünnen Zweigen eines jungen Jacarandá. Wo ist Papa?, fragte ich sie. Beide rannten zu mir hin, und beide hängten sich an je eins meiner Beine. Hier!, schrie die Kleine. Wir haben dich gefunden, rief der Junge. Nein, ich bin ein Baum!, erwiderte ich und hob sie in die Luft, jedes Kind mit einem meiner Äste.
*
Bei Homer, dem Blinden, war ein Auge größer als das andere. Eins davon, das kleinere, war zur Tränendrüse hin ständig halb geschlossen und reglos. Das größere flatterte in seiner blaulila Höhle hin und her wie ein verirrter weißer Vogel – es sah aus wie eine dieser Tauben, die im Inneren einer Kircheoder eines Bahnhofs gefangen sind und flügelschlagend gegen ein geschlossenes Fenster prallen. Ich betrachtete gerne dieses erratische Auge, das mich nicht sah. Homer wartete jeden Sonntag Punkt zehn auf mich, ein Schokoladeneis in jeder Hand. Wenn ich zwei, drei Minuten zu spät kam, war das für mich bestimmte Eis halb geschmolzen und über seine Faust geflossen.
Sie sind ein Gespenst, Mr. Owen, stimmt’s? (Er sprach meinen Namen so aus, wie ihn meine Vorfahren ausgesprochen haben müssen.)
Warum sagen Sie das, Mr. Collyer?
Na, weil ich Sie sehr wohl sehen kann.
Vielleicht können Sie aber auch einfach wieder besser sehen bei so viel Kokaineis.
Nein, nein, mein Herr, das ist es nicht. Sie haben das Gesicht eines amerikanischen Indios, aber die Konstitution eines Japaners. Und die Haltung ist die eines deutschen Aristokraten. Heute tragen Sie einen Hut, vielleicht grau, und ein Jackett, das Ihnen gar nicht steht.
Was? Gefällt Ihnen meine Jacke nicht?
Ihnen würde Tweed gut stehen. Nächsten Sonntag schenke ich Ihnen ein Tweedjackett von meinem Bruder Langley. Ich muss es nur suchen und reinigen. Mein Bruder hat sehr viele Sachen da drinnen.
Ich habe die Residenz der Collyers nie betreten, eine ganze Zeit später aber, als die Brüder starben und alle Zeitungen der Stadt über sie berichteten, erfuhr ich, dass das große Haus sich im Laufe der Zeit mit Müll gefüllt hatte. Langleyhatte seit einigen Jahren alle in der Stadt erscheinenden Zeitungen gesammelt und gestapelt und die Stapel zu einer Mauer aneinandergereiht, damit Homer nicht gegen die viktorianischen Möbel des alten Hauses rannte. Doch Langley häufte offensichtlich nicht nur Zeitungen an, sondern auch Schreibmaschinen, Kinderwägen, Gummireifen, Milchflaschen, Tische, Löffel, Lampen. Homer hat mir nie von der Sammelleidenschaft seines Bruders erzählt, aber ich könnte mir vorstellen, dass sie nicht Selbstzweck war. Vielleicht glaubte er, dass er, wenn er weltliche Gegenstände ins Haus brachte, damit dem blinden Bruder eine Vorstellung von jenen Dingen erhalten könnte, die auf eine stupide Weise die Welt zusammenhalten: eine Gabel, ein
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