Die Schwester der Königin - Gregory, P: Schwester der Königin
ein farbenfroher Anblick. Alle erwarteten das Startsignal und blickten zum König. Der nahm ein purpurrotes Taschentuch und reichte es Anne. Sie trat vor und hielt das Tuch hoch, verharrte |301| kurz in dieser Pose, war sich bewußt, daß aller Augen auf ihr ruhten. Sie ließ das rote Tuch sinken, und die Boote schnellten vorwärts. Einen Augenblick lang vergaß sie ihre Königinnenrolle, lehnte sich über das Geländer, um nach den Booten der Howards und der Seymours Ausschau zu halten.
»Los, ihr Howards!« schrie sie plötzlich. »Los doch!«
Als hätten sie ihren Ruf gehört, beschleunigten die Ruderer ihren Schlag, und das Boot schoß vorwärts, schneller als das der Seymours. Auch ich war inzwischen aufgesprungen. Alle feuerten ihre Mannschaften an, und die königliche Barke hatte gefährliche Schlagseite, weil der gesamte Hofstaat sich an einer Seite zusammendrängte. Der König selbst lachte wie ein kleiner Junge, hatte den Arm um Annes Taille gelegt und schaute zu, feuerte jedoch keinen Lord mehr an als die anderen. Aber offensichtlich war er erpicht auf einen Sieg der Howards, weil das die junge Frau an seiner Seite freuen würde.
Das Boot der Howards raste immer schneller und hatte an der Ziellinie eine halbe Länge Vorsprung vor den Seymours. Wir hatten das Bootsrennen gewonnen und waren die erste Familie im Königreich. Unser Mädchen lag in den Armen des Königs und strebte den englischen Thron an.
Kardinal Wolsey kehrte zurück, allerdings nicht im Triumph und mit der Annullierung der königlichen Ehe, sondern in Ungnade. Er konnte nicht einmal eine Unterredung unter vier Augen mit Henry erwirken. Er, der alles bis in die kleinste Einzelheit gesteuert hatte, vom Weinausschank bei den Banketten bis hin zu den Friedensverhandlungen mit Frankreich und Spanien, mußte feststellen, daß er vor Anne und Henry Bericht zu erstatten hatte, die Seite an Seite saßen, als regierten sie gemeinsam. Die junge Frau, die er der Unkeuschheit bezichtigt und der er vorgeworfen hatte, ihre Ziele zu hoch gesteckt zu haben, saß zur Rechten des englischen Königs und schaute ihn mit zusammengekniffenen Augen an, als sei sie von dem, was er zu berichten hatte, nicht sonderlich beeindruckt.
Der Kardinal war zu sehr erfahrener und mit allen Wassern |302| gewaschener Höfling, als daß er sich die Überraschung hätte anmerken lassen. Er verneigte sich liebenswürdig vor Anne und begann seinen Bericht. Anne lächelte gleichmütig und hörte zu, neigte sich ab und zu vor, um Henry eine kleine giftige Bemerkung ins Ohr zu flüstern, lauschte dann wieder.
»Der Idiot!« Sie kam in unser kleines Gemach gestürmt. Ich saß mit untergeschlagenen Beinen auf dem Bett.
»Er ist ein Narr, und wir sind keinen Schritt weiter!«
»Was sagt er?«
»Daß es eine ernste Sache ist, die Tante eines Mannes zu verstoßen, der den Papst in seiner Gewalt hat und halb Europa beherrscht. Daß, so Gott will, Carlos von Spanien von den Italienern und Franzosen gemeinsam besiegt werden würde, daß England Unterstützung versprechen, aber keinen einzigen Soldaten oder auch nur einen Pfeil riskieren sollte.«
»Wir warten also weiter ab?«
Sie riß die Arme hoch und kreischte: »Wir warten weiter ab? Nein! Ihr könnt abwarten! Der Kardinal kann abwarten! Bei mir jedoch muß es so aussehen, als machte ich Fortschritte, während ich in Wirklichkeit keinen Zoll vorankomme. Ich muß die Illusion aufrechterhalten, daß etwas geschieht. Ich muß Henry das Gefühl vermitteln, daß er mehr denn je und inniger geliebt wird, ich muß ihn glauben machen, daß alles für ihn immer besser wird. Wie soll ich das nur weiter aushalten?«
Ich wünschte, George wäre bei uns. »Du schaffst das schon«, sagte ich. »Du machst weiter wie bisher. Du hast es bisher so wunderbar hinbekommen, Anne.«
»Ich werde alt und ausgelaugt sein, ehe das hier vorbei ist.«
Ich drehte sie sanft zu dem großartigen venezianischen Spiegel. »Sieh dich an«, forderte ich sie auf.
Der Anblick ihrer eigenen Schönheit tröstete Anne stets. Sie atmete tief durch.
»Du bist geistreich«, erinnerte ich sie. »Er sagt, du hättest den schärfsten Verstand im Land, und wenn du ein Mann wärest, würde er dich zum Kardinal berufen.«
|303| Sie lächelte wie eine Raubkatze. »Das hört Wolsey sicher gern.«
Ich lächelte zurück. »Gewiß«, antwortete ich. »Aber Wolsey kann nichts dagegen tun.«
»Er kann den König nicht einmal mehr ohne Anmeldung besuchen«, meinte sie
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