Die Schwester der Königin - Gregory, P: Schwester der Königin
dagewesen. Ihre Herrschaft hatte so lange gewährt, daß nur sehr wenige sich an einen englischen Hof ohne Katherine erinnern konnten.
Anne war wild entschlossen, strahlend, zauberhaft und lebhaft zu sein, tanzte und sang unermüdlich. Der König überhäufte sie mit Geschenken, bedachte auch uns Howards reichlich. Und dennoch war es eher eine Totenwache als ein Weihnachtsfest. Alle vermißten den beruhigenden Einfluß der Königin und fragten sich, was sie wohl gerade machte – in dem herrlichen Haus, das einmal dem Kardinal gehört hatte, der bis zuletzt ihr Feind gewesen war, dann aber schließlich doch die Größe hatte, ihr Recht zu geben.
Nichts vermochte die Stimmung zu heben, obwohl Anne |396| sich bis zur völligen Erschöpfung darum bemühte, fröhlich zu sein. Nachts lag sie neben mir im Bett und murmelte sogar im Schlaf wie eine Wahnsinnige.
Eines Nachts zündete ich eine Kerze an, um Anne zu betrachten. Ihre Augen waren geschlossen, die dunklen Wimpern schmiegten sich an die weißen Wangen. Das Haar war unter der weißen Schlafhaube zurückgebunden. Die Schatten unter ihren Augen waren tiefviolett, sie wirkte zerbrechlich. Und unaufhörlich lächelten ihre bleichen Lippen, murmelte sie etwas. Ab und zu warf sie den Kopf rastlos auf dem Kissen hin und her, versuchte sogar im Schlaf, alle durch ihre Lebhaftigkeit zu bezaubern.
Bereits am Morgen begann sie Wein zu trinken. Er hauchte ihr ein wenig Farbe ins Gesicht und ließ ihre Augen aufstrahlen, befreite sie von ihrer unendlichen Müdigkeit und Unrast. Einmal steckte sie mir rasch eine Flasche zu, als ich mit Onkel im Gefolge in ihre Gemächer trat. »Weg damit«, zischte sie mir verzweifelt zu und hielt sich den Handrücken vor den Mund, damit er den Alkohol nicht roch.
»Anne, du mußt damit aufhören«, sagte ich, als er fort war. »Alle beobachten dich unaufhörlich. Irgendwann merken es die Leute und sagen es dem König.«
»Ich kann nicht aufhören«, erwiderte sie finster. »Ich kann mit gar nichts aufhören, jedenfalls nicht im Augenblick. Ich muß immer weitermachen, als wäre ich die glücklichste Frau der Welt. Ich werde den Mann heiraten, den ich liebe. Ich werde Königin von England. Natürlich bin ich glücklich. Natürlich bin ich unendlich glücklich. Es kann in ganz England keine glücklichere Frau geben als mich.«
George sollte Anfang des neuen Jahres nach Hause kommen. Anne und ich beschlossen, zu seiner Begrüßung ein privates Abendessen in ihren Staatsräumen zu geben. Wir bestellten bei den Köchen das Beste, was die Küchen zu bieten hatten. Dann saßen wir den ganzen Nachmittag auf den Plätzen am Fenster und hielten Ausschau nach dem Boot mit der flatternden Fahne der Howards, das George bringen würde. Ich sah es |397| zuerst als dunklen Schatten vor der Abenddämmerung. Ich sagte Anne nichts davon, schlich mich aus dem Zimmer und rannte die Treppe hinunter. So stand ich, als George über den Landesteg kam, allein da und umarmte ihn. Und mich küßte er, mir flüsterte er zu: »Mein Gott, Schwester, wie froh ich bin, wieder zu Hause zu sein.«
Als Anne merkte, daß ich ihr zuvorgekommen war, rannte sie mir nicht nach, sondern erwartete George in ihren Gemächern. Er verneigte sich vor ihr, küßte ihr die Hand und schloß sie erst dann in die Arme. Anne entließ ihre Hofdamen, und wir drei Boleyns waren wieder allein, wie früher.
George erzählte uns seine Neuigkeiten beim Essen und wollte alles erfahren, was seit seiner Abreise geschehen war. Mir fiel auf, daß Anne ihm längst nicht alles berichtete. Sie sagte nichts davon, daß sie ohne bewaffnetes Geleit nicht mehr in die Innenstadt gehen konnte. Nichts davon, daß sie auf dem Land rasch durch die kleinen Dörfer reiten mußte. Sie berichtete nicht davon, daß Bischof Fisher, der noch immer zu ihren Gegnern zählte, beinahe vergiftet worden wäre. Da wußte ich, was ich eigentlich schon immer geahnt hatte: daß sie sich dafür schämte, was für eine Frau sie geworden war. Sie wollte nicht, daß George erfuhr, wie tief sie bereits vom Ehrgeiz zerfressen war. Er sollte nicht begreifen, daß aus seiner geliebten kleinen Schwester eine Frau geworden war, die inzwischen im Kampf alles, auch ihre eigene unsterbliche Seele, aufs Spiel setzte, nur um Königin zu werden.
»Und was ist mit dir?« fragte mich George. »Wie heißt der Mann?«
Anne schaute verständnislos. »Wovon redest du?«
»Das kann doch jeder sehen. Ich irre mich bestimmt nicht! Unsere Marianne
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