Die Schwester der Königin - Gregory, P: Schwester der Königin
hätte. Es ist keine schlechte Lüge, und sie sollte standhalten.«
|475| »Danke«, sagte ich. »Ich ziehe mich jetzt besser um, ehe mich jemand so sieht.«
»Das Kleid wirfst du am besten weg. Du bist verrückt, weißt du das, Marianne. Ich hätte nie gedacht, daß du so etwas tust. Es war eigentlich immer Anne, die darauf bestand, daß alles nach ihrem Willen geschah. Ich dachte, du würdest stets brav machen, was man dir sagt.«
»Diesmal nicht«, erwiderte ich, warf ihm eine Kußhand zu und ließ ihn stehen.
Wie verabredet, traf ich mich mit William. Aber es war ein seltsames und ungutes Gefühl, auf Armeslänge voneinander entfernt dazustehen und mit ihm wie mit einem Fremden zu sprechen.
»George hatte schon für mich gelogen, ich bin also in Sicherheit. Er meint, er kann für dich den Posten eines Zeremonienmeisters beim König ergattern.«
»Wie weit ich es doch in der Welt gebracht habe!« meinte William bitter. »Ich wußte, daß eine Heirat mit dir von großem Nutzen für mich sein würde. Vom Bauern zum Zeremonienmeister an einem einzigen Tag!«
»Und am nächsten Tag aufs Schafott, wenn du nicht deine Zunge hütest«, warnte ich ihn.
Er lachte, nahm meine Hand und küßte sie. »Jetzt suche ich uns eine Unterkunft gleich vor den Palasttoren, dann können wir jede Nacht zusammen verbringen, selbst wenn wir bei Tag getrennt sein müssen.«
»Ja«, antwortete ich. »Das möchte ich gern.«
Er lächelte mich an. »Du bist meine Frau«, sagte er zärtlich. »Ich lasse dich jetzt nicht mehr gehen.«
Ich traf Anne in den Gemächern der Königin, wo sie mit ihren Damen die Arbeit an einem riesigen Altartuch angefangen hatte. Der Anblick erinnerte mich so sehr an Königin Katherine, daß ich zu träumen glaubte. Doch dann sah ich entscheidende Unterschiede: Annes Damen waren alle Howards oder gehörten zu Familien, die unsere Günstlinge waren. Das |476| hübscheste Mädchen war zweifellos unsere Kusine Madge Shelton, das neue Howard-Mädchen bei Hof, die wohlhabendste und einflußreichste Frau war Georges Ehefrau Jane Parker. Die Atmosphäre im Raum war völlig anders: Königin Katherine hatte sich oft vorlesen lassen, aus der Bibel oder einem Buch mit Predigten. Für Anne wurde Musik gemacht. Als ich das Zimmer betrat, spielten gerade vier Musikanten, und eine der Damen sang dazu.
Außerdem waren jetzt stets Herren anwesend. Königin Katherine, die in der Strenge des spanischen Hofs aufgewachsen war, hatte immer auf sehr förmlichen Sitten bestanden – selbst nach vielen Jahren in England. Die Herren kamen zusammen mit dem König zu Besuch, waren stets willkommen und wurden königlich bewirtet – aber im allgemeinen hielten sie sich nicht lange in den Gemächern der Königin auf. Angebandelt wurde, wenn überhaupt, in der unbeobachteten Freiheit des Parks oder bei der Jagd.
Annes Hofstaat war wesentlich fröhlicher. Ein halbes Dutzend Männer hielt sich im Raum auf: Sir William Bereton half Madge, ihre Stickseiden zu sortieren. Sir Thomas Wyatt saß beim Fenster und lauschte der Musik. Sir Francis Weston schaute Anne über die Schulter und lobte ihre Stickerei. Und in einer Ecke tuschelte Jane Parker mit James Wyville.
Anne schaute kaum auf, als ich in einem sauberen grünen Gewand eintrat. »Oh, du bist wieder da«, sagte sie gleichgültig. »Geht es den Kindern wieder gut?«
»Ja«, antwortete ich. »Es war nur eine Erkältung.«
»In Hever muß es jetzt wunderschön sein«, bemerkte Sir Thomas Wyatt vom Fenster. »Blühen die Osterglocken am Fluß schon?«
»Ja«, log ich rasch. »Sie stehen in Knospen«, verbesserte ich mich.
»Aber die schönste Blume von Hever ist hier«, meinte Sir Thomas und schaute zu Anne hinüber.
Sie blickte von ihrer Stickerei auf. »Und auch in Knospe«, erwiderte sie provozierend, und die Damen lachten mit ihr.
»Ich wünschte, ich wäre die kleine Biene, die zwischen |477| den Blütenblättern spielt«, führte Sir Thomas den Scherz fort.
»Da würdet Ihr feststellen, daß die Blüte für Euch fest verschlossen ist«, erwiderte Anne.
Jane Parkers wache Augen wanderten von dem einen zum anderen. Dieser ganze Wortwechsel schien mir auf einmal eine solche Zeitverschwendung; viel lieber wäre ich bei William gewesen. Es war alles nur Heuchelei. Ich sehnte mich nach der wirklichen Liebe.
»Wann gehen wir auf Staatsreise?« fragte ich.
»Nächste Woche«, antwortete Anne gleichgültig und schnitt einen Faden ab. »Wir ziehen nach Greenwich, glaube
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