Die Schwester der Königin - Gregory, P: Schwester der Königin
ein Liebespaar sind.«
Ich seufzte leise auf.
»Du hast es gewußt?«
Ich nickte und sagte nichts.
»Mein Gott, Mary.« William trat einen Schritt zurück und kam dann wieder an meine Seite. »Und du hast es mir nicht |482| erzählt? Dein eigener Bruder ist so tief in Sünde verstrickt, und du hast mir nichts davon gesagt?«
»Natürlich nicht«, rief ich aus. »Ich setze ihn nicht der Schande aus. Er ist mein Bruder. Und er kann sich ja noch ändern.«
»Du hältst mehr zu ihm als zu mir?«
»Zu ihm und zu dir«, antwortete ich rasch. »William, er ist mein Bruder. Wir sind die drei Boleyns, wir brauchen einander. Wir wissen alle ungeheuer viele Geheimnisse voneinander. Ich bin doch nicht nur Lady Stafford.«
»Dein Bruder ist ein Sodomit!« zischte er mir zu.
»Und doch immer noch mein Bruder!« Ich packte ihn beim Arm, und es war mir völlig gleichgültig, wer uns beobachtete. Ich zog ihn in einen Alkoven. »Er ist ein Sodomit, und meine Schwester ist eine Hure und vielleicht eine Giftmischerin, und ich bin auch eine Hure. Mein Onkel war uns der falscheste Freund, mein Vater hat im Gefängnis gesessen, und meine Mutter – Gott weiß – manche behaupten, daß sie vor uns mit dem König das Bett geteilt hat. All das hast du gewußt oder hättest du dir denken können. Jetzt sage mir, bin ich gut genug für dich? Ich wußte, daß du ein Niemand warst, und bin trotzdem zu dir gekommen. Wenn du an diesem Hof jemand werden willst, machst du dir dabei die Hände blutig oder schmutzig. Ich habe das lernen müssen, seit meiner Kinderzeit. Du kannst es jetzt lernen, wenn du den Schneid dazu hast.«
William rang ob meiner heftigen Worte nach Luft und trat einen Schritt zurück, um mich zu betrachten. »Ich wollte dich nicht verletzen.«
»Er ist mein Bruder. Sie ist meine Schwester. Komme, was da will, sie sind noch immer meine Geschwister.«
»Sie könnten unser beider Feinde sein«, warnte er mich.
»Sie könnten meine Todfeinde sein und wären doch immer noch meine Geschwister«, sagte ich.
Wir hielten inne.
»Geschwister und Feinde gleichzeitig?«
»Vielleicht«, erwiderte ich. »Es hängt davon ab, wie dieses große Glücksspiel ausgeht.«
|483| William nickte.
»Was spricht man also von ihm?« fragte ich nun gefaßter. »Was hast du gehört?«
»Es ist, Gott sei Dank, nicht weithin bekannt. Man sagt, daß es am Hof einen geheimen anderen Hof gibt, den Zirkel deiner Schwester, daß es ihre engsten Freunde sind, daß sie alle Liebesverhältnisse miteinander haben. Sir Francis ist einer davon, Sir William Brereton ein anderer. Sie machen Glücksspiele, sind hervorragende Reiter, Männer, die für eine Mutprobe alles wagen würden, alles, was ihnen Vergnügen bringt oder sie erregt – und George ist mitten unter ihnen. Sie sind immer in der Umgebung der Königin, treffen sich in ihren Gemächern. Also ist auch Anne kompromittiert.«
Ich schaute quer durch den Saal auf meinen Bruder. Er neigte sich gerade über die Lehne von Annes Thron und flüsterte ihr etwas ins Ohr. Ich sah, wie sie den Kopf zu ihm wandte und kicherte.
»Dieses Leben würde einen Heiligen verderben, geschweige denn einen jungen Mann.«
»Er wollte Soldat werden«, antwortete ich traurig. »Ein großer Kreuzfahrer, ein Ritter, der gegen die Ungläubigen in den Krieg zieht.«
»Wir werden den kleinen Henry vor alldem schützen, wenn wir können«, sagte William.
»Meinen Sohn?«
Er nickte. »Unseren Sohn. Wir versuchen, ihm ein Leben zu ermöglichen, das einen Sinn hat und nicht nur der Untätigkeit und dem Vergnügen gewidmet ist. Und du solltest besser deinen Bruder und deine Schwester warnen, daß man sich allerlei über ihren Freundeskreis zuflüstert.«
Am nächsten Tag zog Anne in London ein. Ich half ihr, sich in das weiße Gewand mit dem weißen Überwurf und dem Umhang aus weißem Hermelin zu kleiden. Sie trug das dunkle Haar offen über der Schulter, darüber einen goldenen Schleier und einen kleinen Goldreif. Sie fuhr in einer von zwei weißen Ponys gezogenen Kutsche in die Stadt ein. Der gesamte |484| Hofstaat im schönsten Festgewand folgte ihr zu Fuß nach. Triumphbögen waren errichtet, aus den Brunnen sprudelte Wein, und an jedem Haltepunkt wurden Lobeshymnen verlesen. Doch die Prozession zog durch eine schrecklich stille Stadt.
Madge Shelton schritt neben mir hinter Annes Kutsche her, und das Schweigen wurde immer unheimlicher, je näher wir der Kathedrale kamen. »Großer Gott, es ist furchtbar«,
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