Die Schwester der Königin - Gregory, P: Schwester der Königin
murmelte sie.
London grollte ihr. Die Menschen standen zu Tausenden am Straßenrand, aber sie schwenkten keine Fähnchen, riefen Anne keine Segenswünsche zu. Sie starrten sie mit hungriger Neugier an, die Frau, die einen solchen Wandel in England herbeigeführt, eine solche Veränderung im König bewirkt und sich schließlich aus dem Mantel der Königin ihr eigenes Gewand genäht hatte.
Der Einzug in die Stadt war trostlos. Die Krönung am zweiten Tag dieses stummen Festes war nicht besser. Diesmal trug Anne karmesinroten Samt mit einem Besatz aus feinstem weißem Hermelin und dazu einen purpurroten Umhang. Auf ihrem Gesicht lag ein Donnergrollen.
»Bist du jetzt glücklich, Anne?« fragte ich, als ich ihre Schleppe richtete.
Sie warf mir ein Lächeln zu, das eher einer Grimasse glich. »Die Glücklichste«, erwiderte sie bitter und zitierte ihr eigenes Motto. »Die Glücklichste. Das sollte ich wohl sein, nicht? Ich habe alles, was ich mir je gewünscht habe. Ich bin Königin und Frau des englischen Königs. Ich habe Katherine entthront und ihren Platz eingenommen. Ich sollte die glücklichste Frau der Welt sein.«
»Und er liebt dich«, sagte ich und dachte daran, wie sich mein Leben durch die Liebe eines guten Mannes verändert hatte.
Anne zuckte die Achseln. »O ja«, meinte sie gleichgültig. Sie berührte ihren Bauch. »Wenn ich nur wüßte, ob es ein Junge ist. Wenn ich nur schon bei der Krönung einen Erben im Kinderzimmer gehabt hätte.«
|485| Zart berührte ich ihre Schulter. Ihre Vertraulichkeit machte mich verlegen. Seit wir nicht mehr im gleichen Bett schliefen, hatten wir uns kaum je berührt. Da sie nun einen eigenen Haushalt mit Zofen hatte, bürstete ich ihr nicht mehr das Haar oder schnürte ihr das Mieder. Zu George hatte sie immer noch ein sehr intimes Verhältnis, aber von mir hatte sie sich entfremdet. Daß sie mir den Sohn gestohlen hatte, hatte eine unausgesprochene Feindseligkeit zwischen uns entstehen lassen.
»Es dauert nicht mehr lange«, sagte ich sanft.
»Drei Monate!«
Es klopfte an der Tür, und Jane Parker trat ein, das Gesicht strahlend vor Aufregung. »Sie warten schon auf Euch!« sagte sie atemlos. »Es ist Zeit. Seid Ihr bereit?«
»Verzeihung?« erwiderte Anne eiskalt. Sofort war meine Schwester wieder hinter der Maske der Königinnenwürde verschwunden. Jane sank in einen Hofknicks. »Majestät! Ich bitte um Verzeihung! Ich hätte sagen sollen, daß alle auf Eure Majestät warten.«
»Ich bin bereit«, erwiderte Anne und erhob sich. Ihr übriger Hofstaat kam ins Zimmer, und die Hofdamen legten die lange Schleppe ihres Umhangs zurecht. Ich richtete ihren Kopfputz und breitete ihr das lange dunkle Haar über die Schulter.
Dann machte sich meine Schwester, das Boleyn-Mädchen, auf, um zur Königin von England gekrönt zu werden.
Die Nacht nach Annes Krönung verbrachte ich mit William in meinem Schlafgemach im Tower. Eigentlich hätte Madge Shelton mit mir das Zimmer teilen sollen, aber sie hatte mir zugeflüstert, daß sie die ganze Nacht fortbleiben würde. So schlichen William und ich, während der Hofstaat noch feierte, uns in mein Zimmer, verriegelten die Tür, warfen noch ein Scheit aufs Feuer und liebten uns.
Während der Nacht wachten wir immer wieder auf, liebten uns und schlummerten weiter, in einem schläfrigen Auf und Ab von Erregung und Befriedigung. Als es um fünf Uhr morgens dämmerte, waren wir beide köstlich erschöpft und hatten Heißhunger.
|486| »Komm mit«, sagte William zu mir. »Wir wollen uns etwas zu essen suchen.«
Wir zogen uns an. Ich verbarg mein Gesicht in der Kapuze meines Umhangs. Dann stahlen wir uns aus dem schlafenden Tower in die Innenstadt. Die halbe männliche Bevölkerung Londons schien in den Rinnsteinen zu liegen, noch trunken von dem Wein, der aus den Brunnen geströmt war, um Annes Triumph zu feiern.
Wir gingen Hand in Hand, unbekümmert, ob uns in dieser verkaterten Stadt jemand sehen würde. William führte mich zu einer Bäckerei. Er hielt Ausschau, ob Rauch aus dem schiefen Schornstein kam.
»Ich rieche Brot«, meinte ich. Er schnupperte und lachte über meinen Heißhunger.
»Ich klopfe an und wecke den Bäcker«, sagte William und hämmerte an die Tür.
Drinnen hörte man gedämpftes Rufen, und ein Mann mit rotem, mit weißem Mehl bestäubtem Gesicht riß die Tür auf.
»Kann ich Euch einen Laib Brot abkaufen?« fragte William. »Und ein Frühstück?«
Der Mann blinzelte ins helle Licht der Straße. »Wenn
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