Die Schwester der Königin - Gregory, P: Schwester der Königin
Schemel. Die Frau saß am Tisch: eine Alte mit gekrümmtem Rücken, grauen Haaren, einem vom Wissen zerfurchten Gesicht und strahlend blauen Augen, die alles zu sehen schienen. Als sie lächelte, entblößte sie einen Mund voller schwarzer Zähne.
»Eine Dame vom Hof«, meinte sie, als sie meinen Umhang und das Zipfelchen meines Gewandes gesehen hatte, das darunter hervorlugte.
Ich legte eine Silbermünze auf den Tisch. »Für Eure Verschwiegenheit«, sagte ich nüchtern.
Sie lachte. »Ich werde Euch kaum von Nutzen sein, wenn ich schweige.«
»Ich brauche Hilfe.«
»Wollt wohl, daß Euch jemand liebt? Wollt jemanden tot sehen?« Ihr wacher Blick musterte mich, als wolle sich mich verschlingen. Wieder grinste sie.
»Weder noch«, antwortete ich.
»Schwierigkeiten mit einem Kind.«
Ich zog einen Schemel heran und setzte mich, dachte an die Welt, die sie so einfach in Liebe, Tod und Geburt aufteilte. »Nicht für mich, für eine Freundin.«
Sie kicherte entzückt. »Wie immer.«
»Sie trägt ein Kind unter dem Herzen, aber nun ist sie im fünften Monat, und das Kind wächst und regt sich nicht.«
Das Interesse der Frau war geweckt. »Was sagt sie?«
»Sie glaubt, daß es tot ist.«
»Wird sie noch dicker?«
»Nein. Sie ist nicht fülliger als vor zwei Monaten.«
»Übelkeit am Morgen? Empfindliche Brüste?«
»Nicht mehr.«
Sie nickte. »Hat sie geblutet?«
»Nein.«
|560| »Es klingt, als wäre das Kind tot. Ihr bringt mich besser zu ihr, damit ich sicher sein kann.«
»Das geht nicht«, erwiderte ich. »Sie wird streng bewacht.«
Sie lachte kurz auf. »Ihr würdet nicht glauben, in welchen Häusern ich schon ein und aus gegangen bin.«
»Ihr könnt sie nicht besuchen.«
»Dann müssen wir das Risiko eingehen. Ich kann Euch einen Trank mitgeben. Es wird ihr danach speiübel werden, und das Kind geht ab.«
Ich nickte eifrig, doch sie hob warnend die Hand. »Was ist, wenn sie sich geirrt hat? Wenn das Kind lebt? Nur ein wenig ruht? Ruhiger geworden ist?«
Ich schaute sie völlig verblüfft an. »Was dann?«
»Dann habt Ihr es umgebracht«, meinte sie schlicht. »Dann seid Ihr Mörderinnen, ich ebenso. Haltet Ihr das aus?«
Ich schüttelte langsam den Kopf. »Mein Gott, nein!« Ich überlegte, was mir und den Meinen angetan würde, wenn irgend jemand erfahren sollte, daß ich der Königin einen Trank verabreicht hatte, der die Fehlgeburt eines Prinzen zur Folge hatte.
Ich erhob mich und schaute auf den kalten grauen Fluß. Ich erinnerte mich, wie Anne am Anfang dieser Schwangerschaft ausgesehen hatte, rosig und mit schwellenden Brüsten, und wie sie jetzt aussah, bleich, ausgezehrt, ausgetrocknet.
»Gebt mir den Trank. Sie soll selbst entscheiden, ob sie ihn trinkt oder nicht.«
Die Frau stand auf und watschelte in eine Ecke des Zimmers. »Das macht drei Schillinge.«
Ich sagte nichts zu dem unglaublich hohen Preis, sondern legte schweigend die Silbermünzen auf den schmutzigen Tisch. Sie raffte sie mit einer einzigen raschen Bewegung an sich. »Ihr braucht das nicht zu fürchten«, sagte sie plötzlich.
Ich war schon fast an der Tür. »Was meint Ihr damit?«
»Fürchtet nicht den Trank, sondern die Klinge.«
Mir lief es eiskalt über den Rücken. »Was meint Ihr damit?«
»Ich? Nichts. Wenn es Euch etwas bedeutet, dann nehmt es Euch zu Herzen. Wenn nicht, vergeßt es.«
|561| Ich wartete, ob sie noch etwas sagen würde. Sie schwieg jedoch, und ich schlüpfte rasch aus dem Haus.
George wartete mit verschränkten Armen auf mich. Er packte mich stumm beim Ellbogen, und wir eilten die glitschigen Stufen hinunter zu unserem Boot. Wir schwiegen auch während der Heimfahrt. Als der Bootsmann uns am Landesteg des Palastes abgesetzt hatte, sagte ich zu George: »Zwei Dinge sollst du wissen. Erstens: wenn das Kind lebt, bringt dieser Trank es um, und wir haben es auf dem Gewissen.«
»Können wir irgendwie herausfinden, ob es ein Junge ist, ehe sie den Trank zu sich nimmt?«
Ich hätte ihn verfluchen mögen für seine Gedanken, die nur in eine einzige Richtung gingen. »Das weiß man nie.«
Er nickte. »Und das andere?«
»Das andere ist, daß die Frau meinte, wir hätten nicht den Trank zu fürchten, sondern die Klinge.«
»Was für eine Klinge?«
»Das hat sie nicht gesagt.«
»Die Klinge eines Schwerts? Eine Rasierklinge? Die Klinge der Henkersaxt?«
Ich zuckte die Achseln.
»Wir sind Boleyns«, stellte er fest. »Wenn man sein Leben im Schatten des Throns verbringt, hat man
Weitere Kostenlose Bücher