Die Schwester der Königin - Gregory, P: Schwester der Königin
erwiderte ich schlicht.
Um zwei Uhr morgens wurden wir geweckt. Es war noch dunkel, und an der Tür war nur ein ganz leises Scharren zu vernehmen. Sofort war William aus dem Bett gesprungen und stand mit gezücktem Dolch da. »Wer ist da?«
»George. Ich brauche Mary.«
William schimpfte leise, hüllte sich in seinen Umhang, warf mir mein Hemd zu und öffnete die Tür. »Die Königin?«
George schüttelte den Kopf. Er ertrug es nicht, einem anderen Mann unsere Familiengeheimnisse zu verraten. Er schaute an William vorbei auf mich. »Komm, Mary.«
William trat einen Schritt zurück und unterdrückte seine Wut darüber, daß mein Bruder mich aus meinem ehelichen Bett befahl. Ich zog mir das Hemd über, stand rasch auf und langte nach Mieder und Rock. »Dazu ist keine Zeit«, drängte George wütend. »Komm jetzt.«
»Sie verläßt diesen Raum nicht halb nackt«, sagte William brüsk.
George musterte William kurz. Dann setzte er sein charmantes Boleyn-Lächeln auf. »Sie muß an die Arbeit«, sagte er. »Es ist eine Familienangelegenheit. Laßt sie gehen, William. Ich passe auf, daß ihr nichts zustößt. Aber sie muß jetzt gleich mitkommen.«
William nahm den Umhang von seinen nackten Schultern, legte ihn mir um und küßte mich schnell noch auf die Stirn, als ich an ihm vorbeieilte. George packte meine Hand und zerrte mich im Laufschritt zu Annes Gemächern.
Sie kauerte vor dem Kamin auf dem Boden, den Leib mit beiden Armen umfangen. Neben ihr lag ein blutiges Stoffbündel. Als wir die Tür öffneten, schaute sie uns durch wirr herabhängende schwarze Locken an. Dann wandte sie den Blick ab, als hätte sie nichts mehr zu sagen.
»Anne?« flüsterte ich.
Ich ging durch das Zimmer und hockte mich neben sie, Vorsichtig legte ich einen Arm um ihre angespannten Schultern. Sie lehnte sich nicht zurück, um sich trösten zu lassen, wies |565| mich aber auch nicht ab. Ich schaute auf das traurige kleine Bündel.
»War das dein Kind?«
»Beinahe schmerzlos«, knirschte sie durch die Zähne. »Und so schnell, daß es im Nu vorüber war. Mir drehte sich alles im Leibe herum, als müßte ich mich entleeren, und ich stand auf und wollte zum Nachttopf. Und dann war schon alles vorbei. Es war tot. Es hat kaum geblutet. Ich glaube, es ist bereits Monate lang tot gewesen. Es war alles nur Zeitverschwendung. Alles. Zeitverschwendung.«
Ich wandte mich zu George. »Du mußt das hier loswerden.«
Er schaute mich entsetzt an. »Wie?«
»Vergrabe es«, sagte ich. »Irgendwo. Es darf einfach nicht geschehen sein.«
Anne fuhr sich mit den beringten weißen Fingern durchs Haar und zerrte daran. »Ja«, stimmte sie tonlos zu. »Es ist nie geschehen. Wie letztes Mal. Wie immer. Nichts geschieht.«
George beugte sich herunter, um das Bündel aufzuheben, und zuckte zurück. Er konnte sich nicht überwinden, es zu berühren. »Ich hole einen Umhang.«
Ich deutete mit dem Kopf auf eine der Kleidertruhen an der Wand. Er klappte sie auf, und ein süßes Aroma von Wermut und Lavendel durchströmte den Raum. Er zog einen dunklen Umhang heraus. »Nicht den«, fuhr ihn Anne scharf an. »Der ist mit echtem Hermelin besetzt.«
Diese absurden Worte ließen ihn innehalten, doch dann griff er nach einem anderen Umhang und breitete ihn über das kleine Bündel am Boden. Es war winzig, sogar als er es eingewickelt und sich unter den Arm geklemmt hatte.
»Ich weiß nicht, wo ich graben soll«, sagte er leise zu mir und behielt dabei unablässig ein wachsames Auge auf Anne. Sie raufte sich immer noch das Haar, als wolle sie sich absichtlich weh tun.
»Geh und frag William«, riet ich ihm und dankte Gott für diesen Mann, der uns in all dem Grausen beistehen würde. »Er hilft dir.«
|566| Anne stöhnte leise auf vor Schmerz. »Niemand soll es wissen!«
Ich nickte George zu. »Geh!«
Er verließ uns. Das Ding unter seinem Arm hätte auch ein Buch sein können, das er eingewickelt hatte, um es vor Nässe zu schützen.
Sobald die Tür zu war, wandte ich mich Anne zu. Ihre Bettlaken waren blutverschmiert. Ich zog das Bett ab und half ihr aus dem Nachthemd. Ich riß alles in Fetzen und begann es im Kaminfeuer zu verbrennen. Dann zog ich ihr ein frisches Nachthemd über und ermunterte sie, wieder unter die warme Bettdecke zu kriechen. Sie war totenbleich, und ihre Zähne klapperten, wie sie da ganz winzig unter der dicken Zudecke lag.
»Ich hole dir Glühwein …«
Ich erhitzte einen Krug Wein aus dem Audienzraum mit dem glühenden
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