Die Schwester der Königin - Gregory, P: Schwester der Königin
könnte. Wie lange kann Königin Katherine noch in Freiheit leben, nachdem ihr Berater verhaftet wurde?«
Ich entzog ihm meine Hände. »Ich will es nicht hören«, rief ich. »Das hieße, sich vor den Gespenstern der Vergangenheit zu fürchten. Mein Großvater Howard hat wegen Hochverrat im Tower gesessen und kam lächelnd wieder heraus. Henry wird Thomas More niemals hinrichten lassen. Er liebt ihn. |557| Jetzt sind sie sich zwar spinnefeind, aber More war sein bester Freund.«
»Und wie war das mit deinem Onkel Buckingham?«
»Das war anders«, antwortete ich. »Er war schuldig.«
Mein Mann ließ mich los und schaute wieder über den Fluß. »Wir werden sehen«, meinte er. »Gebe Gott, daß du recht hast und nicht ich.«
Unsere Gebete wurden nicht erhört. Henry wagte, was sich niemand hätte träumen lassen. Er ließ Bischof Fisher und Sir Thomas More vor Gericht stellen, weil sie behaupteten, Königin Katherine sei rechtmäßig mit ihm verheiratet gewesen. Sie verwirkten ihr Leben, weil sie erklärten, daß er nicht das Oberhaupt der englischen Kirche sei. Und diese beiden, Männer mit einem reinen Gewissen, zwei der Besten Englands, schritten zum Schafott und legten den Kopf auf den Richtblock wie die niedrigsten Verräter.
Es waren sehr stille Tage bei Hof, jene Tage im Juni, als Fisher starb, als More starb. Alle spürten, daß die Welt gefährlicher geworden war. Wenn Bischof Fisher hingerichtet werden konnte, wenn Thomas More zum Schafott schreiten mußte, wer konnte sich da noch in Sicherheit wähnen?
George und ich warteten ungeduldig darauf, daß Annes Kind sich rührte, damit sie endlich dem König mitteilen könnte, daß sie schwanger war. Doch Mitte Juni hatte sich immer noch nichts getan.
»Hast du dich in der Zeit geirrt?« fragte ich sie.
»Wohl kaum«, gab sie zurück, »denn ich denke an nichts anderes.«
»Könnte es sich vielleicht so wenig bewegen, daß du nichts spürst?« schlug ich vor.
»Sag du es mir«, meinte sie. »Du bist die Sau, die ständig Ferkel wirft. Könnte es so sein?«
»Ich weiß es nicht.«
»Doch, du weißt es«, beschuldigte sie mich. Ihr kleiner, verkniffener Mund war nur noch eine einzige bittere Linie. »Wir |558| wissen es beide. Wir wissen beide, was geschehen ist. Es ist in mir abgestorben. Ich bin nun im fünften Monat, und ich bin nicht dicker als vor drei Monaten. Das Kind liegt tot in mir.«
Ich schaute sie entsetzt an. »Du mußt einen Arzt zuziehen.«
»Ebenso könnte ich den Teufel rufen. Wenn Henry weiß, daß ich ein totes Kind im Bauch trage, kommt er mir nie wieder in die Nähe.«
»Es wird dich krank machen«, warnte ich sie.
Sie lachte schrill. »Es wird mich so oder so umbringen. Wenn ich ein Wort verlauten lasse, daß dies das zweite Kind ist, das ich nicht austragen konnte, werde ich verstoßen und bin ruiniert. Was soll ich nur tun?«
»Ich gehe zu einer Hebamme und frage sie, ob wir etwas tun können, damit du es loswerden kannst.«
»Dann sieh zu, daß sie nicht erfährt, um wen es geht«, meinte Anne matt. »Ein Sterbenswörtchen, und ich bin verloren, Mary.«
»Ich weiß«, sagte ich grimmig. »George soll mir helfen.«
Wir machten uns noch vor dem Abendessen auf den Weg flußabwärts. Ein Fährmann brachte uns zu einem Badehaus mit Huren, das George kannte. Die Familienbarke wollten wir lieber nicht benutzen. Gleich beim Fluß lebte eine Frau, der man nachsagte, sie könne Zauber verhängen oder ein Kind verhindern, eine Viehweide verfluchen oder die Flußforellen zum Anbeißen bringen. George zog sich den Hut tief in die Stirn, und ich verbarg mich in der Kapuze meines Umhangs. Wir machten das Boot am Landesteg fest. Ich versuchte die Mädchen aus dem Badehaus zu übersehen, die sich halbnackt aus den Fenstern beugten und George verlockende Worte zugurrten.
»Wartet hier«, ordnete George dem Bootsmann an, während wir die glitschigen Stufen hinaufstiegen. Er nahm mich beim Ellbogen und führte mich zu dem Haus an der Ecke. Er klopfte an, und die Tür öffnete sich lautlos. Er trat einen Schritt zurück und ließ mich allein ins Haus gehen. Ich zögerte auf der Schwelle und blinzelte in die Dunkelheit.
|559| »Vorwärts«, sagte George und gab mir mit einem plötzlichen Schubs in den Rücken zu verstehen, daß er keinen Aufschub dulden würde. »Vorwärts. Wir müssen ihr helfen.«
Ich nickte und trat ein. Der Raum war klein und von Rauch erfüllt. Es stand kaum mehr darin als ein kleiner Holztisch und zwei
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