Die Schwester der Nonne
Johanna war eine Frau, die zwar eine raue und ruppige Stimme besaß, aber ein weiches Herz hatte.
Als Hans im Schutze der Dunkelheit den Hof seines Oheims erreichte und von Marias Schicksal erzählte, da zögerte Johanna nicht lange. Sie richtete der jungen Frau eine kleine Kammer im Dachgeschoss des Hauses her, gab ihr einige bäuerliche Kleidungsstücke und setzte ihr kurzerhand eine Haube aus Gudruns Besitz auf.
»Ich kann nicht zulassen, dass du mit Hans in Unkeuschheit hier lebst. Für die Nachbarn bist du seine Frau, klar? Außerdem würde dein geschorener Kopf auffallen. Trag die Haube, bis dein Haar ordentlich nachgewachsen ist.«
Dann bekam Maria eine Schüssel deftiger Kohlsuppe samt einer dicken Scheibe Brot gereicht. Johanna war bodenständig und unkompliziert. Marias Nonnentracht, die jene unter einem alten Umhang getragen hatte, warf sie einfach ins Feuer.
»Ich nehme an, du kehrst nicht wieder dahin zurück«, meinte sie nur, während die Flammen den dunklen Stoff von Marias Tracht fraßen.
Maria sah nun aus wie eine von Johannas Schwiegertöchtern, mit einem Rock aus braunem Wollstoff, einer Leinenbluse und einem groben Stoffmieder, dessen einziger Schmuck eine Kordel aus heller Wolle unter der Brust war. Über dem Rock trug sie eine weite Schürze, die als Schutz der Kleidung, als Handtuch oder Tragehilfe diente. Im Augenblick hatte sie dicke Wollflocken hineingelegt, die sie mit flinken Fingern auszupfte. Die gereinigte Wolle warf sie in einen großen Weidenkorb.
Amelindes Mundwerk plapperte ununterbrochen, während sie keinen Augenblick ihre Arbeit unterbrach.
»Und ihr musstet im Kloster tatsächlich wochenlang schweigen?«
Maria lächelte versonnen.
»Ja, das war ein ganz wichtiges Gelübde.«
»Ich würde schon nach wenigen Herzschlägen platzen«, erwiderte Amelinde kopfschüttelnd. »Das muss doch ein schreckliches Leben sein.«
Nun musste Maria lachen.
»Man kann sich daran gewöhnen, und manchmal ist Stille ganz gut.«
Für einen Moment verschlug es Amelinde die Sprache.
»Aber man muss sich doch untereinander verständigen«, wunderte sie sich. »Wie wissen denn die anderen, ob ich gerade ein Stück Brot will oder dass mir der Bauch wehtut?«
»Dafür gibt es Zeichen. Man kann sich auch ohne Worte mitteilen. Außerdem gefällt es Gott zu schweigen. Man ist ihm dadurch näher.«
»Tatsächlich? Warum hat er uns dann die Sprache gegeben? Warum lässt er die Vögel singen?« Sie blickte hinauf zum Apfelbaum, wo noch immer das schwarze Amselmännchen in den blauen Himmel hineinflötete. »Ich glaube, mit seinem Gesang lobpreist er Gott und nicht mit Schweigen.«
Maria seufzte.
»Das habe ich mich auch manchmal gefragt. Aber wenn man im Kloster lebt, sollte man nicht zweifeln.«
»Deswegen bist du dann verzweifelt, nicht wahr? Aber jetzt geht es dir doch wieder besser. Und Hans liebt dich sehr. Ach, wenn ich doch auch von meinem Geliebten entführt werden würde! Dann wäre der Vater nicht so streng und würde uns eine Kammer auf dem Boden einrichten. Aber der Selmar bringt mir nur immer Kräutersträußchen und Margeriten, und manchmal treffen wir uns hinter der Scheune am Schober.«
Sie kicherte.
»Dort haben wir uns auch schon geküsst.«
Maria senkte den Kopf. Ihre Wangen hatten sich gerötet. Das kam nicht nur von der sommerlichen Hitze. Sie hatte die Liebe erfahren, die Liebe zwischen Mann und Frau. Sie hatte begriffen, dass es nichts Heiligeres gab als diese Liebe. Dank Johannas Großzügigkeit konnten sie und Hans leben wie Mann und Frau. Auf Johannas Anraten hatte Maria sogar ihren Ring behalten, den sie noch aus dem Kloster trug. So sah sie sonntags in der kleinen Dorfkirche tatsächlich wie Hans’ Frau aus.
Das bäuerliche Leben richtete sich nach dem Wetter, und so gab es Wichtigeres als den Besuch von Adams Neffen samt seiner jungen Frau. Die Ernte stand bevor, und jede Hand wurde gebraucht.
Es grämte Maria, dass sie sich nur mit Wollezupfen nützlich machen konnte. Aber es fiel ihr schwer, stundenlang in gebückter Haltung in den Feldern zu arbeiten. Die Wasserfolter hatte ihren Eingeweiden geschadet, und sie verspürte immer noch heftigen Schmerz, wenn sie sich nach vorn beugte. Der Husten, der sie immer wieder überfiel, besserte sich langsam. Die frische Luft tat ihr gut, und vor allem Amelinde verwöhnte Maria mit kühlenden Limonaden aus Kräutern und mit Ziegenkäse, den die Familie aus der Milch ihrer kleinen Ziegenherde herstellte.
Die Herde
Weitere Kostenlose Bücher