Die Schwester der Nonne
Wind kam auf und bewegte die Blätter. Beate wurde wütend.
»Wenn du glaubst, du kannst mich ärgern, dann hast du dich geirrt. Ich spiele nicht mehr mit.«
Sie warf kapriziös den Kopf in den Nacken und lief zum Bach. Dort setzte sich nieder und begann wieder zu singen.
»Es zieht ein dunkle Wolk’ herein … Katharina?«
Langsam begann es Beate unheimlich zu werden. Neben ihr lagen noch Katharinas Schuhe, ein Stück entfernt graste ihr Reitpferd.
»Katharina, komm endlich heraus! Du machst mir Angst.«
Der Wind säuselte in den Blättern, der Bach murmelte und gluckste, ein Vogel stieß einen schrillen Triller aus und erhob sich in die Luft. Eine dicke Wolke verdeckte die Sonne. Beate sprang auf und zog hastig ihre Schuhe an.
»Katharina?«
Ihre Stimme zitterte. Die Angst griff mit kalten Klauen nach ihr. Sie kletterte auf ihren Zelter, nahm die Zügel von Katharinas Pferd und ritt in großer Eile zum Gut.
»Helfried, es ist etwas Seltsames geschehen«, rief Beate völlig aufgelöst dem Verwalter zu, der mit dem Auflisten der eingebrachten Kornfuhren und der abgefüllten Kornsäcke beschäftigt war.
»Katharina ist verschwunden. Wir müssen sie suchen.«
Helfried blickte nur kurz auf. »Wohin soll sie denn verschwunden sein? Sie kommt bestimmt gleich wieder.«
»Ich bin sicher, da ist etwas Furchtbares passiert.« Sie zeigte auf das zweite Reitpferd. »Ihre Schuhe liegen noch am Bach. Sie wollte nur kurz ins Gebüsch verschwinden.«
»Vielleicht war ihr dein Geplapper zu viel. Wenn es was zu futtern gibt, ist sie wieder da, du wirst sehen.«
»Bitte, Helfried, wir müssen sie suchen. Ich befürchte, ihr ist etwas zugestoßen.«
»Hast du etwas gehört? Einen Schrei? Oder etwas gesehen? Fremde Männer etwa?«
Beate schüttelte stumm den Kopf.
»Siehst du! Es ist gar nichts. Sie wird eine Weile ohne dich sein wollen. Außerdem habe ich zu tun. Ich habe niemanden, den ich entbehren kann, um Katharina zu suchen. Vielleicht ist auch ihr Liebhaber gekommen, da verschwindet sie doch ohnehin im nächsten Strohhaufen.«
Er lachte und wischte sich über das schmutzige Gesicht. Dann winkte er die nächste Kornfuhre heran.
Während Beate verzweifelt auf Katharina wartete, fuhr eine kleine Karre, gezogen von einem stoischen Maultier, in Richtung Leipzig. Die Karre hatte einige Korngarben geladen. Nebenher lief ein Mönch, der das Maultier führte. Immer wieder blickte er sich nach seiner Fracht um, als fürchte er, sie zu verlieren.
Es war Nacht, als die seltsame Fuhre die Stadt erreichte. Die Tore waren längst geschlossen, und auf den Mauern brannten die Feuer der Wachen. Der Mönch, kein anderer als Bruder Tobias, klopfte an eine kleine Seitenpforte.
Tobias schauderte, denn er wusste, dass es in dem alten Haus spukte. Hinter den winzigen Fensterchen erglomm ein Licht und ein verhutzelter alter Mann öffnete die Tür. Sie knarrte in ihren Angeln. Mit schlurfenden Schritten ging er zum Pförtchen, um es zu öffnen. Tobias führte den müden und unwilligen Maulesel hinein. Dann blieb er stehen und blickte zum Haus hinüber. Der Alte machte eine einladende Handbewegung, doch Bruder Tobias wehrte ab.
Einmal hatte er dieses Haus betreten. Da knackte es im Dachstuhl und in den Bohlen der hölzernen Treppe, da raschelte es in den finsteren Ecken des Speichers, und der Deckel des Wassertopfes auf dem blubbernden Ofen bewegte sich von allein auf und ab. Das war das Werk eines Koboldes, der im Haus sein Unwesen trieb.
Tobias war sich nicht sicher, ob der Alte nicht selbst der Kobold war, der nur menschliche Gestalt angenommen hatte, um andere Menschen zu narren. Er hätte lieber einen Bogen um ihn gemacht, wenn er nicht unbedingt den nächtlichen Zugang zur Stadt durch dieses Pförtchen benötigte. Er drückte dem Alten einen kleinen Lederbeutel in die Hand, in dem einige Münzen klimperten und beeilte sich davonzukommen.
Auf ebenso geheimnisvolle Weise gelangte er ins Thomaskloster hinein. Erst dort konnte er seine wertvolle Fracht auspacken. Zwei dunkle Gestalten halfen ihm, das zappelnde Bündel, das in einem Sack verschnürt war, in den Keller zu tragen, der sich neben der Brauerei befand. Dicke Mauern umgaben sie, kein Laut konnte nach außen dringen. Sie warfen das Bündel zu Boden und ließen es achtlos liegen.
Nur Tobias blieb im Keller. Langsam sank er auf die Knie und faltete die Hände. Während er betete, trat ein fiebernder Glanz in seine Augen. Er hatte das Werk vollbracht. Er hatte es zum Ruhme
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