Die Schwester der Nonne
sterben!«
Benedictus schüttelte den Kopf.
»Wir haben nicht festgestellt, dass sie eine Hexe ist. Dazu müssten wir sie einer erneuten Tortur unterziehen. Oder wenigstens einer Hexenprobe. Allein das Sprudeln der Quelle kann nicht als Hexerei gelten. Habt Ihr sie durch die Luft fahren sehen? Vielleicht auf einer Weidenrute? Oder hat sie sich vor einem großen Stein verbeugt und das Vaterunser rückwärts gebetet? Hat sie sich in einen Hund, einen Hasen, in eine Katze oder eine Biene verwandelt?«
Die Äbtissin hob die Arme zum Himmel.
»Bruder Benedictus, ich verstehe Euch nicht. Hexerei ist ein einzigartiges Verbrechen gegen Gott, das nicht den üblichen juristischen Klauseln unterliegt. Es ist demnach zwingend notwendig, ein Geständnis unter der Folter zu erzwingen. Das Hexenwesen ist eine permanente Bedrohung des Christentums. Im Feldzug gegen die Häresie ist es erforderlich, alle Mittel auszuschöpfen. Nur Geständnisse, die unter extremen körperlichen Leiden gemacht werden, sind wirklich wahr und echt.«
Die Äbtissin rang erschöpft nach Luft nach ihrer feurigen Rede und ließ kraftlos die Arme hängen.
Benedictus überlegte.
»Nun, erfahrungsgemäß ist eine Hexe ein altes Weib, hässlich und von scheußlichem Äußeren, die in einer heruntergekommenen Hütte am Fuß eines Hügels im Wald lebt. Sie sitzt häufig vor der Tür und spinnt und hat eine schwarze Katze oder Krähen auf dem Buckel, mit zwei, drei Besen und drei teuflischen Saugwarzen, an denen sie die Kobolde nährt.«
Tobias zuckte zusammen. Genau so sah die Alte im Auwald aus, bei der Katharina Zuflucht gefunden hatte.
Die Äbtissin winkte ab.
»Ihr wisst ebenso gut wie ich, Bruder Benedictus, dass der Teufel vielerlei Gesichter hat, auch vermeintlich schöne. Wichtig ist, was die Hexen tun, ob sie Unheil stiften, das Vieh verhexen, Unwetter herbeizaubern oder gar den bösen Blick haben. Die Hagelschläge im Sommer haben Hexen zu verantworten und ebenso, dass das Wasser der Pleiße sich rot gefärbt hat. Man kann sie aber auch an dem erkennen, mit wem sie umgehen. Hat so ein Weib zum Beispiel einen Ziegenbock dabei, dann kann man davon ausgehen, dass es der Teufel in seiner Lieblingsgestalt ist.«
Sie griff unter ihre Tracht und zog etwas hervor, das sie mit der Faust umschlossen hielt. Sie streckte die Hand dem Propst hin und öffnete sie. Eine kleine Holzschnitzerei lag darin.
»Wofür haltet Ihr das?«
Misstrauisch beäugte Benedictus die Schnitzerei. Sie zeigte eindeutig vier Klauenfüße, einen Schwanz, einen Kopf und zwei Hörner.
»Ein Ziegenbock?«
»Ein Ziegenbock«, höhnte die Äbtissin. »Nein, es ist der Herr der Unterwelt persönlich. Das trug Maria an Stelle eines Hexenmals bei sich. Ist Euch das nicht Beweis genug?«
Tobias hockte gespannt wie ein Bogen in seiner Ecke, unauffällig durch seine Kutte. Ein Ziegenbock? Diese Alte im Wald lebte mit einem Ziegenbock zusammen. Katharina hatte bestimmt bei ihr das Hexenhandwerk gelernt. Er wusste, eine Hexe konnte nicht sterben, solange sie ihre Künste nicht an jemanden weitergegeben hatte. Ganz bestimmt war Katharina eine Hexe. Ob nun sie oder die entlaufene Nonne starb, das war egal. Sie waren beide Hexen. Wenn wenigstens eine von beiden starb, würde das Gott für die begangene Häresie entschädigen.
Benedictus vermied es tunlichst, das kleine Holztier zu berühren.
»Ihr habt mich überzeugt, Schwester. Wir werden die Nonne einer Wasserprobe unterziehen, schon morgen. Gebt es in der Stadt bekannt. Unsere Brüder und Schwestern werden bis dahin beten und fasten.«
Niemand nahm Notiz von dem kleinen Bauernwagen mit dem müden Maultier davor, das in den Nachmittagsstunden durch das Peterstor in die Stadt fuhr. Ein Bauer führte das Tier, während seine Frau gebeugt auf dem Karren hockte. Die Leipziger Bürger und das Volk auf den Straßen und Gassen hatten ein ganz anderes Begehr. Endlich gab es wieder eine Hexe zu ersäufen!
Der bunt gekleidete Herold vor dem Rathaus verlas gerade eine dementsprechende Mitteilung. Die Leute scharten sich um ihn, um kein Wort zu verpassen.
»Was ist da los?«, fragte Maria.
Seit sie das Stadtgebiet erreicht hatten, war sie von einer gespannten Aufmerksamkeit. Hans hatte sie gewarnt, nach Leipzig zurückzukehren. Es könnte sein, dass immer noch nach ihr gesucht würde. Doch nachdem sie in Dresden auf Grund des Todes des Herzogs keinen Erfolg gehabt hatten, wollte Maria zu ihrem Vater zurückkehren und von ihm
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