Die Schwester der Nonne
Ufer. Mit einem Blick auf die reglos am Boden liegende Katharina schüttelte er den Kopf.
»Fahrt schnell weiter. Katharina braucht dringend Hilfe. Ich werde mich um Maria kümmern. Sie werden gemerkt haben, dass etwas nicht stimmt. Schade, dass ich das Gesicht des Propstes nicht sehen konnte.«
Thomas war einverstanden.
»Seid vorsichtig«, mahnte er. »Der Propst ist zu mächtig, als dass er sich an der Nase herumführen ließe.«
Hans winkte kurz zum Abschied.
»Gott mit euch.«
Dann eilte er zum Kuhturm, wo Maria immer noch voller Hoffen und Bangen in der Vorratskammer hockte.
»Hans!« Mit einem Aufschrei der Erleichterung fiel sie ihm um den Hals. Doch dann schaute sie ihn besorgt an. »Was ist mit Katharina?«
»Für den Augenblick ist sie gerettet und in Sicherheit. Thomas und Klaus bringen sie zu einer alten Frau im Wald. Man hat sie unter der Folter übel zugerichtet. Dieser Propst ist der Teufel persönlich.«
»Gott hat uns doch nie verlassen, und die Mutter Gottes hat stets ihre Hand über uns gehalten«, flüsterte die junge Frau ergriffen. »Es wird alles gut werden.«
»Ich hoffe es sehr, Maria. Irgendwann muss dieser Leidensweg zu Ende sein. Ich glaube fest an die Kraft der Liebe. Damit überstehen wir auch die schlimmsten Stürme des Lebens.«
Er küsste sie voller Inbrunst. Diesmal konnte Maria sich diesem Kuss mit ganzem Herzen hingeben. Katharina war gerettet!
»Komm, lass uns gehen«, sagte sie entschlossen, als sie sich atemlos voneinander lösten.
»Wohin?«
»Zum Propst. Er muss seinen Irrtum einsehen und den Kirchenbann von mir nehmen, sonst können wir nicht heiraten.«
»Du willst …« Hans verschlug es die Sprache. »Dieser Mann lässt dich sofort ins Verlies werfen. Immerhin bist du aus dem Kloster geflüchtet. Kein Diener der Kirche wird einen Irrtum zugeben. Die Kirche ist allmächtig, allgewaltig und allwissend. Sie begeht keinen Fehler.«
»Die Kirche nicht, aber ihre Diener, denn sie sind nicht Gott, der allwissend ist, sondern nur Menschen, die irren können.«
»Es ist gefährlich«, versuchte Hans sie davon abzubringen.
»Ich weiß«, erwiderte sie ruhig. »Ich vertraue auf den Schutz der Gottesmutter. Komm, ich kenne einen Weg über die Pfingstweide bis zur Elsterbrücke. Es ist keine Viertelmeile weit.«
Nur zögernd willigte Hans ein. Er traute niemandem, weder dem Propst noch der Äbtissin und erst recht nicht der aufgebrachten Menge an den Ufern des Flusses.
An jenem Flusse starrte eine dicht gedrängte Menschenmenge in das trübe Wasser, das unter der Brücke hindurcheilte. Die Hexe, die von den Bütteln des Propstes ins Wasser gestoßen wurde, versank vor ihren Augen in den braunen Fluten. Mancher gewahrte noch den hellen Fleck ihres Büßerhemdes, doch auch der verwischte gespenstisch.
Obwohl der Morgen angebrochen war, das Licht heller wurde und die Trübe der Morgendämmerung verscheuchte, war nichts zu erkennen. Nur das Seil, das der Hexe um den Leib geschlungen war, hing im Wasser. Benedictus, seine ihn begleitenden Chorherren und Mönche, die Äbtissin des Georgenklosters und die Marienmägde eilten zum Brückengeländer und schauten hinunter.
Besonders eine Nonne betete inständig, Maria möge nicht wieder auftauchen. Wenn sie wirklich eine Hexe war, dann waren sie alle in Gefahr, zumindest der kleine Zirkel, der sich regelmäßig zu den geheimen lustvollen Praktiken traf. Wenn dies öffentlich würde, dann würde Benedictus auch an ihnen ein Exempel statuieren. Gundula weinte lautlos. Niemand sah ihre Tränen, weil alle über dem Brückengeländer hingen. Es tat ihr so Leid um Maria, sie hatte sie wirklich gern gemocht.
Ja, sie hatte ihr bereitwillig zur Flucht verholfen und ihr gewünscht, dass sie ein besseres und vor allem für sie glücklicheres Leben finden würde. Warum war sie nicht vorsichtig genug gewesen? Warum konnten die Spione des Propstes sie aufspüren? Jetzt musste sie um ihr eigenes Leben bangen. Wenn Gundula daran dachte, dass auch sie in das kalte, dunkle Wasser gestoßen würde … Sie schüttelte sich vor Grauen. Warum hatte Maria den Frieden des Klosters gestört? Bis jetzt war das Leben darin so ruhig und getreu den Regeln verlaufen. Solange alles geheim blieb und nichts davon nach außen drang, konnten die Marienmägde beruhigt sein. Ob Maria unter der Folter gesprochen hatte? Woher wusste Benedictus von den nächtlichen Ausflügen? Es gab nur eine Möglichkeit: Maria!
Die Zeit verging, doch Maria tauchte nicht
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