Die Schwester der Nonne
wieder auf. Zu beiden Seiten des Ufers rückten die Leute näher heran. Erste Stimmen wurden laut.
»Sie taucht nicht auf!«
»Sie ist unschuldig!«
»Sie ist gar keine Hexe!«
»Zieht sie herauf!«
»Oh Gott, sie ist bestimmt schon ertrunken!«
»So holt sie doch herauf!« Fäuste erhoben sich und drohten dem Propst. »Lüge! Sie war keine Hexe!«
»Wir kennen Maria, sie war immer gut!«
»Mörder!«
»Ihr habt sie umgebracht!«
Benedictus trat unbehaglich von einem Fuß auf den anderen. Es war ein Unding, einen Irrtum einzugestehen, es gab so viele Beweise gegen Maria. Sie musste eine Hexe sein! Warum, zum Teufel nochmal, tauchte sie nicht auf und schwamm wie ein Baum an der Wasseroberfläche? War sie mit den Wassergeistern im Bunde?
»Zieht doch, zieht sie herauf, ihr Tölpel«, fuhr er die Folterknechte an.
Eifrig holten sie das Seil ein. Wieder ging ein Schrei durch die Zuschauer, als sie nur das nasse und ausgefranste Ende des Taus ans Tageslicht zogen.
Mit eisigem Schrecken starrte Benedictus darauf. Das ging nicht mit rechten Dingen zu! Der Pöbel rückte unaufhörlich näher, und die Stimmung schwelte bedrohlich.
»Wo ist sie?«
»Was habt Ihr mit Maria getan?«
»Ihr habt sie absichtlich ersaufen lassen!«
»Mörder!«
»Werft ihn ins Wasser!«
»Jawohl, er soll auch ersaufen!«
»Die Kirche hat sich geirrt!«
»Gott hat anders entschieden!«
Benedictus hob beide Hände und versuchte sich der Menge zu erwehren.
»Gott hat gerichtet. Die Wassergeister haben sie geholt. Mit denen war sie im Bunde. Gott sei ihrer Seele gnädig. Wir haben alles richtig gemacht. Gott hat entschieden.«
»Wassergeister?«, schrie einer der Studenten. »Wenn sie eine Hexe war, dann stellt Wasser für sie ein unüberwindliches Hindernis dar. Wieso ist sie dann mit Wassergeistern im Bunde? Sagt Ihr das nicht nur, um Euch zu rechtfertigen? War das nicht eine Hinrichtung, weil Maria aus dem Kloster geflohen ist? Unter dem Vorwand, sie sei eine Hexe, habt Ihr sie gerichtet. Aber das steht Euch nicht zu. Es gab kein ordentliches Gerichtsverfahren wegen ihrer Flucht. Benedictus, Ihr seid ein gemeiner Mörder!«
»Halt’s Maul, du Grünschnabel«, schrie Benedictus und winkte gleichzeitig die Waffenknechte zu Hilfe. Die hoben drohend die Spitzen ihrer Hellebarden gegen die andrängenden Leute.
»Wie kannst du dich erdreisten, ein Kirchengericht zu kritisieren? Außerdem war es ein Gottesurteil. Gott hat sie zu sich genommen. Das müssen wir akzeptieren.«
Ein Teil der Menge murmelte zustimmend. Doch keiner war bereit, einfach nach Hause zu gehen, denn der weitaus größere Teil der Zuschauer war anderer Meinung. Die Emotionen kochten hoch, Steine flogen auf den Propst. Die Nonnen duckten sich kreischend, die Äbtissin fluchte wie ein Ochsenkutscher.
»Elendes Pack, verdammter Pöbel. Lanzenknechte, so jagt sie doch auseinander!«
Von beiden Seiten rückten die Leute heran, Benedictus und seine Mönche und Nonnen waren wie in einer Falle gefangen. Auch der Bürgermeister und die Ratsherren befanden sich in dieser prekären Lage. Die wenigen Soldaten, die den Zug begleitet hatten, konnten nicht viel ausrichten. Zumindest verteidigten sie die beiden Brückenzugänge.
»Es war voreilig«, zischte einer der Ratsherren dem Bürgermeister zu. »Nun haben wir das Dilemma.«
»Wer konnte das denn ahnen?«, flüsterte der Bürgermeister zurück.
»Es war Maria Preller, und der Preller ist doch auch ein Ratsherr. Wir hätten es nicht zulassen dürfen.«
»Preller war ein Ratsherr«, entgegnete der Bürgermeister genervt. »Erstens hat er sich schon seit Monaten nicht mehr sehen lassen und Gott weiß, wo er sich herumtreibt. Und zweitens ist seine Tochter öffentlich exkommuniziert worden. Damit ist er für uns als Ratsherr nicht mehr tragbar.«
»Der Propst hat voreilig gehandelt. Diese Kirchenmänner sind alle Eiferer, und in ihrer religiösen Verblendung können sie nicht mehr rational denken.« Der Ratsherr wandte sich zu dem am ganzen Leibe zitternden Benedictus um. »Soll ihn der Pöbel am Brückengländer aufhängen. Gleich an dem Strick, an dem sie die arme Maria geschwemmt haben.«
»Um Himmels willen!«
Der Bürgermeister hob entsetzt die Arme.
»Willst du uns den neuen Landesherrn auf den Pelz hetzen? Wir sind froh, wenn wir bei unserer Obrigkeit gut dastehen. Unser allergnädigster Herzog Georg wird sich wohlwollend an Leipzig erinnern, wo er doch vor vier Jahren hier seine polnische Prinzessin
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