Die Schwester der Nonne
anderes Sitzmöbel im Haus, außer der Gesindebank in der Küche, auf das dieses Hinterteil sonst passte.
Aufgeregt fasste Katharina nach Marias Hand, als sich Hieronymus seinem Gast zuwandte und ihn bat, seine Schilderung nun zu beginnen.
»Es ehrt mich sehr, dass ich im Hause meines Freundes Hieronymus zu Gast sein darf und er mir die Gelegenheit gibt, die vielfältigen Eindrücke meiner Reise zu schildern.« Er schaute in die Runde und in erwartungsvolle Gesichter. Er hob seinen Becher. »Ich trinke auf das Wohl meines Freundes Hieronymus Preller und seiner Familie, die mich so freundlich aufgenommen hat, und bedanke mich mit einer Schilderung meiner Reise in das Reich des chinesischen Kaisers.«
»Habt Ihr den Kaiser richtig gesehen?«, wollte Katharina wissen.
»Psssst«, zischte die Amme.
Sikora lächelte.
»Nein, natürlich nicht. Keinem Sterblichen ist es vergönnt, ihn zu sehen. Man sagt, er lebe in einer Stadt, in die keine Menschenseele hineinkommt und die er zu Lebzeiten nicht verlässt. Man nennt sie die Verbotene Stadt.«
Es war so leise, dass man nur das Knistern des Holzes im Kamin hörte.
»Das Reich des Kaisers ist so gewaltig, dass man es kaum durchmessen kann. Es reicht von Horizont zu Horizont, und niemals geht darin die Sonne unter. Er verwaltet es, indem er es in verschiedene Provinzen unterteilt und in jeder Provinz eine Unmenge Beamte unterhält. Das Ganze ist ein Wunderwerk der Organisation. Das Land ist wunderschön und hat viele gänzlich verschiedene Landschaften zu bieten: gewaltige schneebedeckte Berge ebenso wie unendliche grüne Ebenen, Hügel und Täler, gewaltige Flüsse, Meeresküsten mit seltsam und bizarr geformten Felsen.«
Er stockte und griff zu seinem Becher.
Für Katharina versank indes die Welt. Sogar den Studiosus Klaus hatte sie vergessen. Sie wusste, dass es unschicklich war, einen Gast derart anzustarren, aber sie konnte es nicht unterdrücken. Sie versuchte zu ergründen, was anders war an diesem Mann, der Orte besucht hatte, die nicht einmal ihre Gedanken oder ihre Phantasie erreichen konnte. Besaß er vielleicht diese seltsamen kleinen, zu Schlitzen verengten Augen der Chinesen oder ihre gelbe Haut? War etwas anders an ihm als an den Menschen, die hier lebten?
»Ich habe chinesische Handelshäuser gesehen«, erzählte er weiter, nachdem er einen Schluck des gewürzten Weins genommen hatte und sich danach die Lippen leckte. »Sie haben mehrere Dächer übereinander.«
Maria riss die Augen auf.
»Mehrere Dächer übereinander?«, staunte sie. »Wozu, um alles in der Welt, soll das gut sein?«
Sikora lächelte wissend.
»Es ist ihre Bauweise. Man findet diese Häuser nicht in allen Gegenden, aber in vielen. Meist liegen sie direkt an einem Fluss. Die Bauweise ist in unseren Augen seltsam. Die Bauten mögen nicht mehr als zwölf Fuß breit sein, sind aber gewiss um die hundert Fuß lang. Sie stoßen mit der Schmalseite an den Fluss. Geht man von der Straße aus hinein, dann wird man von Raum zu Raum geleitet, die wie an einer Kette hintereinander liegen. Alle Räume sind prächtig ausgestattet, mit Holzböden und getäfelten Wänden, die mit Lackmalereien und Einlegearbeiten verziert sind. Je reicher so ein Kaufmann ist, umso reicher ist auch sein Haus geschmückt. Ganz hinten, in der Nähe des Flusses, befindet sich die Küche, wegen der Feuergefahr. Und dahinter tragen die Kulis die Waren von den Booten direkt ins Lager.«
»Was sind Kulis?«, wollte Katharina wissen.
»Tagelöhner, arme Menschen, die sich ihr Brot durch einfache Arbeiten verdienen. Meist besitzen sie nicht mehr als das, was sie auf dem Leib tragen. Sie verrichten die niedersten Arbeiten und stehen in geringem Ansehen. Aber sie bewegen sich emsig wie Ameisen, schleppen Stoffballen, Teebündel, Geschirrkörbe und all die anderen Waren im Laufschritt von den Dschunken in die Häuser.«
»Großer Gott, was sind Dschunken?«, fragte Maria.
»Sei nicht so vorlaut«, rügte die Amme. »Neugier ist eine Untugend, die einem jungen Mädchen nicht ziemt.«
»Lasst sie doch, ehrenwerte Dame«, beschwichtigte sie der Gast. »Sie ist nicht neugierig, sondern wissbegierig. Als Tochter eines Kaufmannes kann man nicht genug von der Welt erfahren, nicht wahr, Maria?«
Maria schlug errötend die Augen nieder, weil sie gemaßregelt wurde. Aber gleichzeitig freute sie sich, dass der Ehrengast Partei für sie ergriff.
»So ist es, verehrter Gast«, flüsterte sie.
»Dschunken«, setzte der Händler
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