Die Schwester
leidender,
nutzloser Mensch. Ich beobachtete schon vom jenseitigen Ufer.
Ich wurde nicht »gesund« in diesen Tagen, aber ich starb auch nicht.
Ich lebte nicht mehr in dem medizinischen Sinn des Wortes, dass ein
menschlicher Organismus hier auf Erden bleiben will, zwischen Gefahren und
wunderbaren Gemeinplätzen wie Städten, Liebe, Pflanzen und Musik. So lebte ich
nicht mehr; der Professor hatte mich aufgegeben.
Mein Verstand, der Rest meines Bewusstseins, der in meinem
erkaltenden und verlöschenden Körper noch wirkte, nahm in diesen Tagen einen
bewussten Spionagedienst auf. Ich musste wissen, in welcher weiblichen Gestalt
das Stromaggregat wirkte, das meinen gelähmten, auf den Tod zugehenden Körper
mit Spannung, mit der Botschaft des Lebens füllte. Denn eine weibliche Kraft
kämpfte für mich in diesen Tagen, das wusste und spürte ich. Der Charakter
dieser Kraft war so unmissverständlich weiblich, wie man die Berührung einer
weiblichen Hand noch im Schlaf von der einer männlichen unterscheiden kann. Moll war diese Kraft, die in gleichmäÃigen Wogen, weich,
strömte. Und der weibliche Körper, der mir diese Botschaft sandte, versteckte
sich hinter einem Individuum und einer Tracht und gab mir bei Tage kein
wahrnehmbares Zeichen dafür, welche von den vier Schwestern dieses Bündnis auf
Leben und Tod mit meinem Schicksal geschlossen hatte. Ich beobachtete auf dem
Krankenlager wie ein tödlich verwundetes Tier. Die Kraft war da. Aber wer gab
sie? Und warum? Ich achtete auf jedes ihrer Worte, ich spähte bei Nacht nach
ihnen, im krankhaften Halbdunkel, das diese stumm wachenden Gestalten mit
seinen bläulichen Schatten bedeckte. Ich hoffte auf einen Blick, auf eine
unbewusste, identische Wiederholung der nächtlichen Stimme. Was konnte ein
menschliches Wesen, eine Frau, von mir, dem Elenden und Sterbenden, noch
wollen? Auf keinen Fall das, was Männer und Frauen voneinander wollen, was für
immer und ewig über Rang und Namen steht. Sie konnte keine sexuelle Verbindung
wollen. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass eine der vier Nonnen sich in
akutem Wahnsinn in mich verliebt hatte und jetzt mit dem Willen dieser
entstellten Verliebtheit das Bewusstsein des Lebens in mir aufrechterhielt. In
diesen Tagen verstand ich, wie sehr all das, was wir von den Absichten und
Berührungen zwischen den Menschen wissen, Gemeinplätze sind. Verliebtheit,
Nacktheit, Sexualität, all das sind nur Folgen, maskierte Erscheinungen eines
Phänomens, das im Hintergrund der Welt der Lebenden existiert und manchmal
Gestalt annimmt. Meist nimmt es eine gewöhnliche, bequeme Gestalt an, als
erschiene Liebe, Nacktheit oder Lust im Morgenmantel. Aber all das sind nur
Verkleidungen. Jede geheimnisvolle menschliche Beziehung â Freundschaft, Liebe
und die eigenartigen Bindungen, wenn sich Gegner treffen und sich im Kampf auf
Leben und Tod für ewig »verbünden«! â beginnt mit dieser zauberhaften
Berührtheit; mit der traumartigen Wahrnehmung der Wirklichkeit. In der Masse,
unter Fremden trifft uns plötzlich ein Augenpaar, eine Stimme, einem wird
schwindlig, es ist, als hätte man diesen Moment schon einmal erlebt, als wüsste
man im Voraus, was geschehen wird, als wären auch Worte und Bewegungen bereits
vertraut. Das ist die wahrste und verhängnisvollste Wirklichkeit, und zugleich
scheint sie, als begegne man ihr im Traum. So beginnen groÃe menschliche
Beziehungen, und diese Berührtheit spürte auch ich â noch einmal, vielleicht
zum letzten Mal, war jemand an den Rand der Todesgrube gekommen, noch einmal
»begegnete« ich jemandem, erlebte diese feierliche, traumartige Wirklichkeit,
wie schon einmal in meinem Leben â wann? Und jetzt wusste ich es, wie vor vier
Jahren, als ich E. zum ersten Mal getroffen hatte.
Denn jetzt verstand ich wie jemand, der allmählich zu sich kommt,
aus dem Stockfinsteren ins Licht, und sich zu orientieren beginnt; ich begriff,
dass trotz alledem sie die »Liebe« in meinem Leben war â weniger und mehr als
das, was die Menschen als Liebesverhältnis bezeichnen. An diese Leidenschaft
gab es keine intimen körperlichen Erinnerungen; E. war krank, kalt, eine Art
wunderschöner, engelsgleicher Krüppel. Und ich hatte sie dennoch geliebt. In
den langen Nächten, in denen die stumme Ermutigung unablässig zu mir sprach,
verstand ich, dass E., die andere Kranke, auch hinter
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